1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 "Ja, aber ... ", sagte ich.
"Bei der Schauspielerei gibt's kein Aber", sagte Änni. "Da gibt's nur ein: Seht her, ich bin's!"
"Ja, aber ... ", sagte ich.
"Brauchst dich nicht zu verstecken, Klein Erna. Bist jung und gesund. Willst doch den Menschen was geben von dir. Na, siehst du. Das kannst du mit der Kunst am besten."
Änni stellte mich Herrn Tröge vor, obwohl der mich längst kannte. Sie sagte: "Das ist Klein Erna von Warmbrunns. Sie will Schauspielerin werden. Kannst du was für sie tun?"
Herr Tröge sah mich an, als hätte er mich zum ersten Mal vor Augen. Er fasste mich an den Schultern und drehte und wendete mich. Und Änni sprach auf Herrn Tröge ein: "Sieh sie dir genau an. Ist doch ein gerades, hübsches Kind. Die hat den Ausdruck. Der fließt Theaterblut in den Adern. Da brauchst du keine Brille. So was spürt man. Das wird eine Ophelia, dass sich alle Theater die Finger danach lecken. Mehr brauche ich dir nicht zu verraten, Herr Fritz."
"Donner und Doria, gib Ruhe, Änni", sagte Herr Tröge. Er fragte mich: "Warum willst du Schauspielerin werden, Kind?"
"Ich ... ", sagte ich.
"Weil die Bühne sie ruft", sagte Änni. "Weil sie den Drang spürt. Weil sie ... "
"Keine Metaphysik", unterbrach Herr Tröge. "Ich hätte es gern von ihr selbst erfahren. Rede, Kind."
Änni nickte und nickte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schloss die Augen. Stellte mir vor, wie ich mich auf der Bühne bewegen würde. Schließlich brachte ich heraus: "Ich stell's mir nicht schlecht vor. Man ist mit vielen Menschen zusammen. Man spricht miteinander. Und ... "
"Ja. Und? Und?", drängte Änni.
"Und man kann spielen."
"Ja. Spielen", sagte Herr Tröge nachdenklich. "Das ist das Wort. Man kann spielen."
"Und? Und?", fragte Änni. "Was ist dein Eindruck? Steckt in ihr nicht eine Schauspielerin?"
"Das kann man so nicht sagen", meinte Herr Tröge. "Soll sie es versuchen. Versuche es, Kind. Spielen. Das ist das Wort."
Er kam nicht drüber weg. Viel später noch sah er mich versonnen an und sagte: "Und man kann spielen. Ja. Spielen. Das ist das Wort."
Änni bearbeitete Herrn Tröge, dass er mit mir die zur Eignungsprüfung verlangten zwei Gedichte und zwei Spielszenen einstudieren solle. Herr Tröge wollte davon nichts wissen, obwohl Änni nicht kleinlich war und ihm ein Vierteljahr lang Freibier anbot. "Die Prüfungskommission soll sich ihr eigenes Bild machen können", sagte Herr Tröge. "Sie sollen das Kind so sehen, wie es ist. Soll sie herauslassen, was in ihr steckt."
Herr Tröge blieb fest. Es wäre fast zum Streit zwischen Änni und ihm gekommen. "Eins steht fest!", rief Änni. "Sollte Klein Erna scheitern, hast du sie auf dem Gewissen!"
Der Termin der Eignungsprüfung lag nahe. Änni war meine strenge Lehrmeisterin geworden, Von meinen Eltern hatte sie das Einverständnis geholt, dass ich an der Prüfung teilnehmen konnte. Auch die Schule war informiert worden.
Meine Eltern hatten anfangs überhaupt nichts davon wissen wollen. Irgendwie stand die Schauspielerei für sie in dem Ruf eines wilden, zügellosen Lebens. Mutter erinnerte sich sofort an die B. B., die in ihrer Karriere durch eine Menge Betten gegangen sei. Auch mein Vater war für ein "geregeltes, ehrliches Leben". Aber wenn Änni was wollte, dann setzte sie's fast immer durch. Sie erzählte von ihrem Fritz und davon, wie er's Tablett so "stilvoll" über die Bühne trug. Und sie verglich die Leistungen unserer Großen im Sport mit den Leistungen in der Kunst. Kunst und Sport seien miteinander verwandt, sagte Änni. Beide zeigten den Menschen, was sie Großes leisten könnten.
In der Schule sprach Frau Paulsen mit mir. Sie fragte, ob ich mir das auch richtig überlegt hätte. Als ich ja sagte, begann sie zu tänzeln. Das wäre doch nur eine Laune von mir, sagte sie. Eine Schnapsidee. Ich sollte Vernunft annehmen. Mit meinen Leistungen könnte ich alles werden. "Ja", sagte ich. "Ich werde Schauspielerin."
Änni wusste, was in mir vorging. Das war dieses Etwas, das in ihr selbst noch nicht tot war. Sie war immer voller Erwartung. Voller Freude, die die Angst kennt. Darum verstand sie mich.
Jeden Tag nach der Schule "studierte" Änni mit mir die Rollen ein. Wegen "technischer Schwierigkeiten" öffnete sie den "Roten Hirsch" später. Herr Tröge hatte für mich zwei kurze Spielszenen ausgesucht. Die eine war aus Viktor Rosows "Unterwegs". Es war die, in der Sima dem Wolodja auf dem Bahngelände hinterherrennt. Die andere Szene war dem "Nackten König" von Jewgeni Schwarz entnommen. Ich musste die Prinzessin Henriette spielen. Wie sie vor ihren Hofdamen den Schweinehirten Heinrich hundertmal küsst. Ziemlich peinlich, die Angelegenheit. Außer meinem Vater hatte ich in meinem ganzen Leben noch keinen Mann geküsst. Und nun gleich hundert Mal.
Die Gedichte wählte ich selber aus. Als Frau Paulsen merkte, dass sie mich nicht von der Schauspielerei abbringen konnte, schenkte sie mir ein Buch: "Georg Maurers immerwährender Dreistrophenkalender". Das sind Gedichte von der Art, dass sie jeder verstehen kann. Es ist, als könnte man's anfassen, riechen, schmecken, hören, sehen. Daraus wählte ich das Gedicht "Froher Morgen".
Streckt euch, Zweige, erwacht!
Ich habe ein Ei gegessen und weißes Brot.
Mein ganzer Leib lacht.
Die Nachtsorgen sind tot.
Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen
wie ein Vogel aus dem Ei.
Ich habe die Schale durchbrochen
und spaziere jetzt frei
Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen,
wenn sie picken.
Ich weiß, wen die Raben grüßen,
wenn sie mit dem Kopfe nicken.
Das andere Gedicht hieß "Bewaffneter Friede". Es ist von Wilhelm Busch. Ich hatte es in der Schule schon oft vorgetragen. Zu Elternabenden und Schulfeiern. Hatte dafür immer viel Beifall bekommen.
Das "Studieren" der Rollen, das "Spielen" machte mir Spaß. Ich dachte nicht mehr so viel an Werner Branstner. An manchem Tag vergaß ich, in den Briefkasten zu sehen. Ich hatte ein Ziel und musste dafür arbeiten. Man hatte mir in einiger Entfernung einen Karton hingestellt. Und ich wollte ihn unbedingt haben. Wollte wissen, was darin ist.
Ich glaube, die Welt hat mit mir keine große Schauspielerin verloren. Herr Tröge hatte recht. Es gehört schon viel "Rotzfrechheit" dazu, sich vor allen Leuten auf eine Bühne zu stellen. Und das Abend für Abend. Als ich zur Eignungsprüfung ging, glaubte ich noch, ich könnte es. Als Änni mich früh auf den Weg schickte, sagte sie: "Kopf hoch, Klein Erna. Es kann dir gar nichts passieren. Du hast gearbeitet. Und du kannst was. Wirst sehen, die fressen dir aus der Hand."
Ich war eine halbe Stunde eher da. Dachte, ich bin die Erste. Dachte auch, außer mir würde hier kaum jemand auftauchen. Hatte mich mächtig getäuscht. Vor der Theaterhochschule parkte ein Auto am andern. Überall standen Jungen und Mädchen herum, mit und ohne Erwachsene. Ich konnt's gar nicht glauben, dass es so viele Leute gab, die Schauspieler werden wollten. Sah mir alle Mädchen genau an. Manche sahen so gut aus, dass ich mich hätte wegschmeißen können. Es waren auch welche dabei, klein und pummelig, die mir wieder Mut machten. Ich war scheußlich aufgeregt. Muss ziemlich mitgenommen ausgesehen haben; denn ein Junge sprach mich an. Er hatte einen Jeansanzug an. War groß und schlank. Trug die Haare bis auf die Schultern. Nuckelte an einer nassen Zigarette.
"Geht es dir nicht gut?", fragte der Junge. Er hustete. Nahm die Zigarette aus dem Mund. Klopfte dran herum. Steckte sie sich wieder zwischen die Lippen. Paffte und hustete.
"Übles Kraut", sagte er. "Was bekommt man heute noch für sein gutes Geld. Rauchst du?"
Mir war hundeelend. War froh, dass der Junge da war, obwohl er ziemlich überheblich wirkte und ich solche Typen nicht ausstehen kann. Ich nahm mit zitternder Hand eine Zigarette. Die erste meines Lebens. Er gab mir Feuer. Wir pafften und husteten. Und bald war meine Zigarette genauso nass wie seine.
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