Hans sprach unaufhörlich. Erzählte von seiner Mutter, die als Schauspielerin Spitze wäre. In wie viel und was für Filmen sie mitgespielt hätte. Wie sie daherkäme. Wie eine Königin. Und wie verrückt er darauf wäre, auch Schauspieler zu werden. An welchem Theater und was für Rollen er spielen und wie er daherkommen würde. Wie ein König. Ein sehr volkstümlicher, versteht sich. Und ich würd's schon schaffen. Er hätte einen Blick dafür. Ich versuchte mir vorzustellen, dass der Junge Werner Branstner hieße. Es gelang mir nicht.
"Könntest du dir vorstellen, du heißt Werner Branstner?", fragte ich ihn.
"Wie kommst du darauf?", sagte er. "Nein. Natürlich nicht. Ich bin ein Wegener, Hans Wegener."
Ich war sehr traurig. Ließ mir eine Zigarette geben. Rauchte und aß. Himmel, war mir schlecht. Aber ich hatte was, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Mit dem Schmerz im Magen.
Nach der Mittagspause wurde's Ernst. Unsere Gruppe wurde mit einer anderen Gruppe zusammengelegt. Zwei Männer holten uns nach Bühne drei. Das war im Obergeschoss des Hauptgebäudes ein größerer Raum, der eine kleine Bühne hatte. Einer der Männer wurde ans Telefon gerufen. Er kam erst wieder, als alles vorbei war.
Von uns Prüflingen musste einer nach dem anderen auf die Bühne und zwei Gedichte vortragen und zwei Szenen vorspielen. Es machte mir großen Spaß, zuzusehen. Fand, jeder machte seine Sache gut. Bin natürlich kein Fachmann. Es war interessant, wie die Jungen und Mädchen die Personen, die sie spielten, sahen. Sie mussten ja nicht irgendeinen Jemand spielen. Sie spielten die Julia, den Wolodja, die Sima. Und einer sogar den alten Faust. Es waren jedenfalls alles Menschen mit ganz bestimmten Sorgen und Freuden. Kein Jemand, der überm Fluss war und irgendwas Wichtiges vergessen hatte.
Der Mann vom Theater, der übrig geblieben war, sprach mit milder und gewählter Stimme zu uns. Er war Sprecherzieher. Glaube, er sah mehr zur Tür als auf die Bühne. Aus seiner Miene ließ sich nichts erraten. "Danke", sagte er nach jedem Vortrag. "Der oder die Nächste bitte. Was hören und sehen wir denn?"
Ich war überhaupt nicht aufgeregt, als ich dran war. Durch die Auftritte der anderen hatte ich wieder etwas Spaß an der Sache bekommen. Und ich dachte an unsere Große, meine Eltern und Änni. Das Leben hat seine Pflichten, hatte unsere Große gesagt. Da hatte sie die Kunst bestimmt auch. Muss sagen, ich war ganz zufrieden mit mir. Die Prinzessin Henriette, die den Schweinehirten Heinrich hundertmal küsst, habe ich gern gespielt. Ich sah unter mir die Jungen und Mädchen. Sie waren ganz locker. Lachten ein paar Mal. Das war ein wunderbares Gefühl für mich. Ich verstand Änni, als sie gesagt hatte: Willst doch den Menschen was geben von dir. Ja, das wollte ich. Alles, was ich hatte, wollte ich ihnen geben. Das habe ich seit damals nie wieder vergessen. Was auch passiert ist. Als Letzter war Hans Wegener dran. Der Junge war nicht wieder zu erkennen. Schon während meines Auftritts hatte er in Kutscherhaltung gesessen und autogen trainiert. Habe ihn auch später oft so erlebt. Bei ihm führte die Entspannungsmethode zum Gegenteil. Eine Paradoxie sozusagen. Oder er sprach die völlig verkehrten Formeln. Armer Kerl. "Herr Wegener", sagte der Sprecherzieher. "Wenn ich bitten darf. Was bekommen wir zu hören und zu sehen?"
Hans spielte den Lanzelot aus dem "Drachen" von Schwarz. Genauer: Er wollte ihn spielen. Aber Hans stotterte, und hätte seine Rolle das Stottern erfordert, wäre er unschlagbar gewesen. Aber Lanzelot der Drachentöter stottert nicht. Und dabei hätte Hans so schöne Worte zu sagen gehabt. Am Vormittag hatte er sie mir immer wieder vorgesprochen:
Ach, weiß man in eurem Volk überhaupt, wie man lieben kann? Furcht, Müdigkeit und Zweifel verbrennen, verschwinden auf ewig. So sehr kann man lieben. Selbst die Bäume im Wald können zärtliche Worte mit uns wechseln und die Vögel und die wilden Tiere, weil Liebende alles verstehen und sich eins fühlen mit der Ganzen mit.
Hans verstotterte alles, obwohl der Sprachlehrer sich viel Mühe mit ihm gab und Geduld zeigte. Aber's war nichts zu machen. "Tut mir leid", sagte der Sprecherzieher fassungslos. So einen Fall hatte er wohl noch nicht gehabt.
Wir mussten zurück in den Keller. "Hans", sagte ich zu dem Jungen. "Hans. Mensch. Komm zu dir. Sag doch was. Starr nicht so."
Ich rüttelte ihn. Die anderen redeten auf ihn ein. Wollten ihn trösten. Weiß nicht, ob er irgendwas hörte und sah. Als der Sprecherzieher und der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, in den Keller kamen, fasste Hans meine Hand. Ließ sie nicht wieder los. Der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, sagte irgendwas Lustiges. Alle lachten. Dann rief er die Namen derjenigen auf, die die Prüfung bestanden hatten. Das waren nicht viel! Warmbrunn und Wegener waren nicht darunter. Kam für mich nicht überraschend. Und doch tat's weh. Musste an die Familie und an Änni denken. Wir Durchgefallenen wurden entlassen. Mit freundlichen Worten. Sollten uns den Mut nicht nehmen lassen. Wäre längst nicht raus, ob die, die bestanden hatten, Schauspieler würden. Wir könnten uns ja einer Laienspielgruppe anschließen. Und die eigentliche Aufnahmeprüfung sei ohnehin erst in zwei Jahren. Und so weiter.
Ich fragte den Sprecherzieher, warum sie mich nicht nähmen. Er sah mich erstaunt an. Dann blätterte er in den Akten, als hätte er nie mit mir zu tun gehabt. "Warmbrunn", sagte er. "Cornelia. Geboren. Wohnhaft."
So viel war klar. Er sah mich an. Sagte: "Du musst dich nicht aufregen. Jeder fällt mal irgendwo durch."
"Ich rege mich nicht auf", sagte ich. "Ich will's nur wissen. Damit ich's verstehen kann."
Der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, nahm dem Sprecherzieher die Akten aus der Hand und las vor: "Zeigt Phantasieschwäche. Schlecht ausgeprägtes Vorstellungsvermögen. Zu wenig Gefühl für Rhythmik und Melodie. Gesamteindruck: noch zu kindhaft. Naiv. Fehlende Reife. Schwache Persönlichkeit."
Das genügte. Wirklich. "Danke. Vielen Dank", sagte ich. Ging mit Hans, der noch immer meine Hand hielt. Wir liefen durch den Park. Auf einer kleinen chinesischen Brücke blieben wir stehen. Es war Abend. Die Enten und Schwäne stiegen gerade an Land und machten sich's unter Büschen bequem. Ich spuckte ins Wasser unter mir und dachte nach, wie ich die Hand des Jungen aus meiner Hand loskriegen könnte.
Heute weiß ich, dass ich sie gar nicht loskriegen wollte. Wir hielten uns beide fest. Plötzlich fand Hans seine Sprache wieder. Er sagte: "Du hast mich heute etwas gefragt. Ob ich mir vorstellen könnte, dass ich anders heiße. Den Namen habe ich vergessen."
"Werner Branstner", sagte ich.
"Werner Branstner", sagte er. "Ich könnte mir vorstellen, dass ich Werner Branstner heiße. Das kann ich mir gut vorstellen. Dieser Werner Branstner ist ein Junge, der mit der Schauspielerei überhaupt nichts zu tun hat. Seine Mutter arbeitet bei der Post. Sie trägt Zeitungen und Briefe aus. Oder sie sitzt am Schalter. Wenn Werner Branstner aus der Schule kommt und sie von ihrer Arbeit, gehen sie zusammen in die Eisdiele. Kein Wort davon, dass Rollen geübt werden müssen. Keine Frage nach den neuesten blöden Zensuren. Dieser Werner Branstner redet mit seiner Mutter über alles Mögliche. Über die Frau Milm, die auf der Post den Leuten immer mal wieder zu wenig Geld auszahlt. Übers Schulessen. Den Mordanschlag auf den Papst. Über den Drei-zu-Null-Sieg vom Klub. Über das gute Moskauer Eis. Am Abend ist die Mutter zu Hause. Dieser Werner Branstner bastelt in seinem Zimmer an alten Radios herum. Er repariert jede Uhr. Die Leute aus dem Haus bringen ihm kaputte Staubsauger, Heizsonnen und Verlängerungsschnüre zur Reparatur. Wenn Werner Branstner dann im Bett liegt, wirtschaftet die Mutter noch in der Küche. Er weiß, sie ist ganz in seiner Nähe. Darüber schläft er ein."
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