"Entschuldige", sagte der Junge. Er machte tatsächlich eine gekonnte Verbeugung vor mir. Mit Anstand sozusagen. "Mein Name ist Hans Wegener."
"Cornelia Warmbrunn", sagte ich. "Conny."
"Wegener", sagte Hans. "Meine Mutter ist die Wegener. Die Schauspielerin. Du wirst sie kennen."
Ich kannte sie nicht. Sagte: "Jaja. Ach die." Die Zigarette brachte mich fast um. Aber irgendwie ließ sie mich die Massen um mich herum besser ertragen.
"Das viele Volk hier", sagte Hans verächtlich. "Die sind aus der ganzen Provinz angereist." Er hustete und lachte. "Eine Vorstellung haben die. Du solltest sie heute Abend wieder abziehen sehen. Können einem Leid tun."
"Ja", sagte ich. "Mir tun sie alle Leid. Alle, die durchfallen."
"Das musst du nicht so verbissen sehen", sagte Hans. "Du bestehst. Ich habe einen Blick dafür. Geerbt. Der Vater meiner Mutter war schon Schauspieler. Er hat in dem Stummfilm 'Wenn Frauen weinen' mitgespielt."
Ich war Hans dankbar, dass er gesagt hatte, ich bestehe. Er musste's ja wissen. Dann wurden Tor und Tür geöffnet. Die Massen drängten hinein. Wir warfen die Zigaretten weg. Ich wich dem Jungen nicht von der Seite. Und er nicht von meiner. Im Haus sah's ziemlich finster aus. Viele Türen. Eine breite Treppe nach oben. Eine schmale nach unten. Es roch irgendwie alt. Wir mussten alle die Treppe nach unten gehen. Unten waren die Kellerräume zu Zimmern ausgebaut. Man saß wie im Wartezimmer. Und das war's schließlich auch.
"Reg dich nur nicht auf", sagte Hans. "Du musst ganz ruhig bleiben. Hast du dich mit autogenem Training beschäftigt?" Der Junge erzählte mir in einer Lautstärke, dass es alle hören mussten, von dieser Entspannungsmethode. Er wusste eine Menge darüber. Führte vor, wie man's im Sitzen macht. In der Kutscherhaltung. Saß fünf Minuten, ohne sich zu rühren. War nur fuchsrot im Gesicht. Als er damit fertig war, suchte er wie wild seine Zigaretten. Es hingen überall Schilder: Rauchen verboten! Er fluchte, dass es Freude machte, zuzuhören. Die Mütter und Väter sahen in ihm so was wie eine Persönlichkeit. Sie erkundigten sich bei ihm, wie's nun mit ihren Töchtern und Söhnen weiterginge. Was denn für Chancen bestünden. Und was sie nicht noch alles wissen wollten. Hans gab bereitwillig Auskunft. Ich habe noch nie einen Jungen so viel reden hören. Aber ich war froh darüber.
Endlich erschien so ein Theatermensch. Sah ganz normal aus. Verlor ein paar Worte zur Sache. Die Eltern mussten ihre Kinder verlassen. Wir Prüflinge wurden in Gruppen eingeteilt. Hans und ich kamen in dieselbe Gruppe. Wir zogen durch einen Garten, der eine Wüste war, in ein anderes Haus. Dort mussten wir wieder eine Ewigkeit warten. Die Leute hatten viel Zeit. Hans sagte mir hundertmal, dass ich nur ruhig werden solle. Ich war überhaupt nicht mehr aufgeregt. Aber ich ließ ihn reden. Es schien ihm gut zu tun.
Dann erinnerte sich doch eine Frau an uns. Wir mussten die mitgebrachten Turnsachen anziehen. Wurden in ein Zimmer gebeten. Eine andere Frau erzählte uns etwas von Etüden und solchen Scherzen. Jeder von uns sollte einen Clown spielen. Dann mussten wir uns an jemand, der ein Niemand war, anschleichen. Ich musste so an die zehnmal einen Ball in die Luft werfen und darunter durch rennen. War nicht sehr einfallsreich, das Ganze. Aber es waren Etüden. Schließlich sollten wir uns vorstellen, zwischen uns und diesem Jemand sei ein Fluss. Der Jemand habe was Wichtiges vergessen. Und wir sollten ihn zurückrufen.
Hans hatte mächtigen Spaß daran. Er schrie über den Fluss, dass es nur so hallte. Die beiden Frauen hielten sich die Hände auf die Ohren und bedeuteten ihm, er solle Schluss machen. Aber ihm schien's wichtig zu sein, dass jemand über den Fluss zurückkäme und mitnähme, was er vergessen hatte. Und der Fluss war auf jeden Fall breiter als die Elbe. Ich war wirklich froh, dass ich den Jungen bei mir hatte.
"Warum rufen Sie nicht?", fragte mich bald die eine, bald die andere Frau.
Himmel, ich brachte keinen Ton heraus.
"Wen soll ich denn rufen?", fragte ich eingeschüchtert.
"Das ist doch gleichgültig. Da ist jemand auf der anderen Seite des Flusses. Den sollen Sie rufen. Weil er was Wichtiges vergessen hat!"
"Was ist's denn, was er vergessen hat?"
Die eine Frau machte sich eine Menge Notizen. Die andere war so ein Weib, das bestimmt lieber ein Mann geworden wäre. Ich hatte sie vom Stuhl getrieben. Sie stand stramm. Sie hatte mich scharf im Blick. Sagte geschliffen: "Mein Gott, bist du schwer von Begriff! Ist doch völlig gleichgültig, wen du rufst! Genauso gleichgültig ist das, was er vergessen hat!"
"Ruf doch", flüsterte Hans hinter meinem Rücken. "Schreien musst du!"
"Willst du nun tun, was ich dir sage?", fragte das Weib. Ich hätte gern getan, was sie von mir verlangte. Dachte die ganze Zeit, wie unsere Große sich in so einer Situation verhalten würde. Aber ich konnte nicht einfach schreien ohne Sinn und Verstand. Nur weil's das Weib so wollte. Ich nannte sie das "Weib". Das gab mir Kraft.
"Bitte", sagte ich. "Sagen Sie mir doch, wer's ist, der da auf der anderen Flussseite steht. Und dann muss ich wissen, was er vergessen hat. Wenn er nun schon mal übern Fluss ist und nur den Hausschlüssel oder so was vergessen hat, dann lass ich ihn laufen. Er kann ja klingeln, wenn er zurückkommt."
"Was Wichtiges", sagte das Weib. "Ich hatte ausdrücklich gesagt: Der Mann hat etwas Wichtiges vergessen. Begriffen?!" Die andere notierte und notierte.
"Also ist's ein Mann", sagte ich.
"Wieso ein Mann!", rief das Weib.
"Sie haben eben gesagt: Der Mann hat etwas Wichtiges vergessen. Wissen Sie noch mehr über den Mann?"
Das Weib wurde immer wütender. Die andere sagte zu ihr: "Bleib ruhig, Angelika." Sie sagte freundlich zu mir, so in der Art, wie man mit einem Verrückten spricht: "Es ist gut, Fräulein Warmbrunn. Sie brauchen die Etüde nicht zu machen."
Das Weib und die Frau flüsterten miteinander. Die Frau lächelte mir zu. Ich kam mir verteufelt ausgeliefert vor. Kann's nicht ausstehen, wenn Leute ihre Köpfe zusammenstecken und über einen Dritten flüstern.
Ich muss sagen: Bei den Etüden, diesen Scherzen, war mir der Spaß an der Schauspielerei vergangen. Die Leute ließen uns wieder eine Ewigkeit warten. Stelle mir vor, das gehört zum Beruf. Damit wollen sie einen mürbe machen, damit man nicht mehr fragt, wer der Jemand überm Fluss ist und was er so Wichtiges vergessen hat. Hans bot mir eine Zigarette an. Wir pafften und husteten. Er sagte, ich solle nur ruhig sein. Das hätte noch gar nichts zu sagen. Wissenschaftlich gesehen, wären die Etüden dummes Zeug. Das hätte sein Großvater, der im Stummfilm "Wenn Frauen weinen" mitgespielt hatte, schon immer gesagt. War wirklich sehr nett von dem Jungen. Ich fragte ihn, warum er so laut nach diesem Jemand auf der anderen Flussseite gerufen hätte. Er sagte, keine Ahnung. Er wüsste's nicht. Seine Mutter, die Wegener, hatte ihm eingeschärft, er sollte tun, was von ihm verlangt würde. Die Besserwisserei brächte dem Schauspieler nur Ärger ein.
Irgendwann holten sie uns. Wir mussten uns nach Musik bewegen. Ich hatte ja meine Erfahrungen aus der künstlerischen Gymnastik. Die Leute konnten mir nur Leid tun. Aber sie blieben freundlich. Das muss ich sagen. Zum Mittag war Pause. Wir gingen zurück ins Hauptgebäude. Kauften uns Milch und belegte Brötchen. Ich aß vier Brötchen. Und hatte noch immer Hunger. Das ist immer so, wenn ich am Ende bin. Wäre am liebsten nach Hause gegangen und hätte mich ins Bett gelegt. Aber ich dachte an unsere Große. An Mutter und Vater. Und an Änni. Und dann war noch der Junge an meiner Seite. Ich konnte nicht einfach weglaufen. Aber die Lust war aus mir raus. Dieses Gefühl in mir, diese Angst und diese Hoffnung, war wieder stark. Musste an Werner Branstner denken. Es war aber von ihm nur noch der Name übrig. Und die Geschichte von dem Jungen und den Tauben.
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