Ich schwieg. Er verlangte: "Sag doch was. Bitte."
"Ich glaube, man kann nicht sein, wer man will", sagte ich. Ich dachte nach, wie ich sein wollte. Wollte bisher immer wie unsere Große sein. Mir fiel auch nichts Besseres ein.
"Doch", sagte Hans sehr erregt. "Ich kann sein, wer ich will. Das ist so. Glaube es mir. Der Mensch kann der werden, der er sein will. Er kann alles werden. Wenn ich will, kann ich dieser Werner Branstner werden."
"Und warum wirst du's nicht?"
Er schwieg. Steckte sich eine Zigarette an. Paffte drauflos. Dann sagte er: "Weil ich es nicht will. Darum. Ich werde Schauspieler. Dann bin ich der Wegener. Und ich kann auch zu jeder Zeit dieser Werner Branstner sein."
"Kannst du nicht", sagte ich, nun auch aufgeregt. "Man kann nur immer einer sein. Man kann nur immer sein, wer man ist. Nur - ich weiß nicht, wer ich bin ...“
"Ich werde Schauspieler", sagte Hans bestimmt. "Ich muss Schauspieler werden." Mit jedem Atemzug sog er den Qualm tief in sich ein. Er musste schrecklich husten. Er fluchte. Bekam keine Luft mehr. "Schla-schla-schlag mir auf den Rücken", rief er. Er stotterte wieder. Vielleicht war's vom Rauchen.
Es war dunkel geworden. Es war, als schwebten wir. In der Ferne waren vereinzelte kleine Lichter zu erkennen. War ein eigenartiges Gefühl. Zugleich schön und Furcht erregend. Unsere Hände hielten einander fest.
"Du", sagte Hans. "Es ist ... Welchen Weg gehst du? Ich wohne gleich in der Nähe. Du machst keinen Umweg. Ich - ich nehme dich die paar Schritte mit."
Er ließ mich nicht los. Ich ging mit. Aus seiner Hand spürte ich ein Zittern. Es kam so von innen heraus. Es wurde immer stärker, je näher wir seinem Zuhause kamen. Er wohnte in der Nähe des Parks. In so einem alten Bürgerhaus, das sich trotz seiner verwitterten Fassade mit seinen Schnörkeln über den Fenstern und der Haustür noch immer vornehm gibt. Ich mag solche Häuser. Sie wissen was zu erzählen, wenn man sich Zeit nimmt, ihnen zuzuhören.
"Ma-mach es gut", sagte Hans an der Haustür. "Da-danke." Er sah zu den hell erleuchteten Fenstern im ersten Stockwerk hinauf.
"Mach's gut, Hans", sagte ich. Ging über die Straße. Musste zurück durch den Park, um schneller nach Hause zu kommen. Meine Leute würden sich schon Sorgen machen. Auf der anderen Straßenseite holte Hans mich ein. Er sagte: "Wa-wann können wir uns wieder sehen?"
Ich sagte nichts. Hatte keinen Grund, ihn wieder zu sehen. Er sagte: "Du, ich mu-muss dich wie-wiedersehen. Ich mu-muss."
"Keine Zeit", sagte ich. "Wirklich." Dann bin ich weggerannt.
Zu Hause hat's wegen meiner Theateruntauglichkeit keine Vorwürfe gegeben. Vater sagte: "Wir Warmbrunns sind praktischer Natur. Für uns muss eine Sache Hand und Fuß haben." Er nahm mich mit zum Pferderennen. Spendierte mir rote Limonade, Bockwurst und Nugattorte. Wir sahen uns die Pferde an. Er legte mir seine schwere Hand auf die Schulter und nickte zu den Pferden hin. Wir gingen am Flutkanal entlang nach Hause. Spielten uns mit den Füßen einen Stein zu. Vater war nicht so steif wie sonst. Nicht so zurückhaltend. Und auch nicht müde. Bevor wir die Treppen rauf sind, sagte er: "Meine Tochter." Nichts weiter. Ich verstand ihn. Hätte ihn gern umarmt und geküsst. Aber da stieg er schon die Treppen hoch.
Mutter meinte, das Theater sei nicht die Welt. Es sei nur eine Nachahmung. Die Welt sei viel größer. Es gebe viel für mich zu tun. Sie hat mich in die Arme genommen und davon gesprochen, wie sehr sie davon überzeugt sei, dass ich wie unsere Große meinen Weg gehen würde. Unsere Große schrieb mir einen Brief. Über Siege und Niederlagen. Dass man aus den Niederlagen Kraft für die Siege holen müsse. Daher seien die Niederlagen ganz wichtig. Aber zählen würden schließlich die Siege. Sie bestimmten die Entwicklung. Am Schluss des Briefes verabschiedete sie sich für eine längere Reise nach Bulgarien und wünschte ihrer kleinen Schwester alles Liebe und Gute. Ich war froh, so davongekommen zu sein.
Am schwersten hat's Änni getroffen. Sie konnte's nicht begreifen. Sie hat mich in die Arme genommen und geweint. Diese Riesenfrau. Jolly Eisenarm.
Ich war völlig fassungslos. Sagte immer nur: "Ist doch nicht so schlimm, Änni. Muss mir aus der Niederlage Kraft holen."
Zu Herrn Tröge sagte Änni: "An deiner Schule, Herr Fritz, sind ja feine Zustände! Wirklich feine Zustände. Das muss man laut sagen. Ihr lasst die größten Talente sausen. Feine Zustände!"
Herr Tröge hat beteuert, dass es nicht seine Schule sei. Im Übrigen wüssten die Leute dort, was sie täten. Er kaufte mir bei Änni eine Tafel Nussschokolade und sagte: "Geschieht wohl, dass man an einem Tag weder sich noch andre leiden mag, will nichts dir nach dem Herzen sein; sollt's in der Kunst wohl anders sein?" Danach trat er ab. Zum Stammtisch. Rief, er müsse jetzt einen Skat dreschen.
Änni hat gesagt, das werde sie feststellen, ob die Leute an dieser Schule wirklich wüssten, was sie täten. Am nächsten Tag ging sie in die Theaterhochschule. Verlangte einen Verantwortlichen zu sprechen. Irgendein Professor ließ sich finden. Änni hat ihn gefragt, ob er der Meinung sei, dass die Kunst auf so ein Talent, wie Conny Warmbrunn es sei, verzichten könne. Sie selbst sei nämlich nicht irgendeine, die von der Kunst nicht berührt und befruchtet worden wäre; sie sei eine vom Bau, Jolly Eisenarm. Und sie erzählte, wie sie ihren Fritz und all die Gewichte mit Leichtigkeit auf den Arm genommen hat. Der Professor verlor nicht die Nerven. Er suchte meine Akte heraus. Las vor, was der Mann, der mit Madagaskar telefoniert hatte, mir vorgelesen hatte. Da richtete Änni sich zu ihrer vollen Größe auf. Wie eine aus Hellas. Pallas Athene. So in der Richtung. Änni sagte zum Professor, dass er nun mal gut zuhören solle. Sie sagte, dass er auch zu denen gehöre, die schon damals keine Regung gezeigt hätten, als ihr Fritz auf der Bühne des Theaters von A. das silberne Tablett über die Bretter trug. Und wenn die Schule und der Professor so weitermachten, seien sie bald mit ihrer Kunst am Ende. Das behauptete sie. Jolly Eisenarm. Eine vom Bau. Dann hat sie sich verbeugt wie in ihrer besten Zeit. Ist mit wehenden Fahnen abgetreten. Ganz große Dame.
Schließlich hat sich auch Änni wieder beruhigt. Sie sagte zu mir, wenn man nur wolle, könne man den Menschen überall etwas von sich geben. Hinterm Tresen zu stehen sei auch eine Kunst für sich. Der "Rote Hirsch" sei auch eine Art Theater. Das Stück heiße: Wie das Leben so spielt. Und wenn ich nichts Besseres wüsste, könnte ich immer im "Roten Hirsch" anfangen.
Wie gesagt, ich habe nicht darunter gelitten und habe keine Komplexe bekommen, weil die Schauspielkunst mich nicht wollte. In der Schule hat's mich keiner spüren lassen, dass ich durchgefallen war. Nur Susanne konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. Es hat mich nicht gekratzt, weil ich schon drüber weg war. Frau Paulsen sagte vor allen Schülern, sie sei jetzt wieder sehr zufrieden mit mir. Wenn ich so weitermache, stände meiner Delegierung zur Oberschule nichts im Wege. Es lief bei mir wieder ohne größere Probleme. Zu Hause und in der Schule. Wie's immer gelaufen war. Wie eine Straßenbahnfahrt. Von Station zu Station. Meistens dieselben Leute. Dieselben Gesichter. Die gleichen Gespräche. Der gleiche Geruch. Dieselben Farben. Die gleiche Geschwindigkeit. Bis zur Endhaltestelle. Nach einer kurzen Pause den Weg wieder zurück. Hin und her. Und jeder sagte mir, ich würde gut vorankommen. Dachte mir, die Leute müssen's ja wissen. Sie leben schon lange so. Bewegen sich auf eingefahrenen Gleisen.
Aber da war wieder dieses Gefühl in mir, diese Angst und diese Hoffnung. Diese Kraft, die in mir arbeitete und Unruhe schaffte. Dieses Etwas, für das ich kein passendes Wort fand, war wieder da. Am besten fand ich's in dem Gedicht ausgedrückt, das ich vor den Theaterleuten aufgesagt hatte. Oft war ich morgens lange vorm Weckerklingeln munter. Lag mit geschlossenen Augen und wartete. Und dann kamen mir diese Zeilen in den Sinn:
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