»Na? Wie ich sehe, ist mein gesamter Vorrat an Express-Selbstbräuner-Spray hinfällig geworden«, stellte Ganesh Singh lächelnd fest.
»Tja, wäre ich kleiner, könntest du mit dem übriggebliebenen Rest, hier in Indien, ein echtes Vermögen machen!«, konterte Gungnir schlagfertig.
»Auch wieder wahr. Und? Hast du dir schon Gedanken über deinen neuen Namen gemacht?«, fragte Ganesh, der auf der Veranda seines Ladens saß, um vor Beginn der Ladenöffnung noch gemütlich eine Zigarette rauchen zu können. Diese Frage war nicht allein rhetorisch gemeint, sondern bei ihm Programm, da Ganesh Gungnir die neuen Papiere besorgte. »Willkommen bei den Sikhs, jetzt bist du auch ein Löwe.«
Die männlichen Sikhs heißen alle mit Nachnamen Singh, was eben »Löwe« bedeutet.
»Eigentlich bin ich vom Sternzeichen ein Zwilling. Ich dachte da an Gobinda Singh«, gab Gungnir zurück.
»Gobind Singh war der zehnte und letzte menschliche Guru des Sikhismus. Da hast du dir einen großen Namen ausgesucht. Halte ihn in Ehren«, meinte Ganesh feierlich.
»Äh, eigentlich dachte ich da eher an Gobinda aus dem James-Bond-Film ›Octopussy‹. Das war der Kerl, der die Backgammonwürfel mit bloßen Händen zu Pulver zermalmte«, grinste Gungnir und zündete sich eine Zigarre an.
Ganesh holte einen Jutebeutel hervor. »Hauptsache du wählst nicht Singh Singh, das klingt nämlich wie dieser amerikanische Knast. Egal, wenn du einen echten Sikh darstellen willst, brauchst du die fünf berühmten K´s. Hier sind deine ersten vier Utensilien: Einen hölzernen Kamm, den sogenannten Kangha. Der wird in den Haaren getragen und zur Haarpflege benutzt. Er gilt als Zeichen der Sauberkeit«, händigte er den Kamm aus. »Und dies ist eine Kachera-Hose aus Baumwolle. Sie soll zur sexuellen Mäßigung beitragen. Ob das allerdings bei dir irgendetwas nützt, ist fraglich«, kicherte Ganesh wissend.
»Hm, das Ding sieht wie eine normale, etwas längere Boxer-Shorts aus, und nicht gerade wie ein Liebestöter. Erinnert mich ein wenig an Turnvater Jahn«, stellte Gungnir verblüfft fest.
»Tja, wenn sie vorne gelb und hinten braun ist, kann sie schon abschreckend wirken!«, lachte Ganesh und verschluckte sich beinahe am Zigarettenrauch. »Weiter im Konzept: Dieser Stahlreif, der Kara, wird am Handgelenk getragen und ermahnt zur Verpflichtung an die Wahrheit. Ursprünglich diente er dazu, um die Schwerthiebe unserer Feinde abzuwehren. Nun zum Kirpan. Dieser Dolch wird Tag und Nacht getragen und ist das Werkzeug, um Arme, Schwache und Unschuldige zu verteidigen. Ich hoffe, du wirst dich wenigstens ansatzweise an unseren Ehrenkodex halten?«, mahnte er feierlich.
»Ich werde mir alle Mühe geben. Aber was ist das fünfte K?«, fragte Gungnir neugierig.
»Das trägst du bereits unter deinem Turban, dem Dastar. Kes, das ungeschnittene, jedoch gepflegte Haar. Es ist ebenso ein Symbol unseres Glaubens. Es bekundet, dass wir nicht gegen Gottes Willen aufbegehren, sondern die Natur seiner Gesetze akzeptieren«, erläuterte Ganesh.
»Na, da habe ich aber Glück, dass der Turban jetzt hält, ansonsten hätte ich es nämlich abrasiert!«, gluckste Gungnir belustigt.
Beide Männer schwiegen, rauchten und sahen dem geschäftigen Treiben auf der Straße zu. Gungnir brach zuerst das Schweigen. »Hast du dich eigentlich gar nicht gefragt, wieso ich für die Welt gestorben bin und nun deine Hilfe benötige?«
»Nein, in meinem Job komme ich weiter, wenn ich keine Fragen stelle. Wenn du mir etwas erzählen willst, dann tu es freiwillig. Ich selbst stelle keine Fragen. Manchmal ist es besser, wenn man nichts weiß«, meinte Ganesh und stieß einen Rauchkringel aus.
»Es klingt zwar ein wenig lahm, aber ich bin nicht freiwillig in dieses Dilemma geraten. Jemand hat mich reingelegt. Und dazu noch jemanden, der mir sehr viel bedeutet. Du kennst doch den Kerl, der letztes Jahr mit dem Dunkelhaarigen bei dir war, um ein paar nützliche Dinge zu kaufen?«
»Oh, du meinst deinen Bruder, den Maler?«, fragte Ganesh.
»Was?«, fragte Gungnir entsetzt. »Hat er gesagt, er wäre mein Bruder?«
»Ja, ich weiß noch, wie ich für euch eine Turbine besorgen musste, nachdem ihr eine auf dem Flughafen demoliert habt«, erinnerte er sich lebhaft.
»Ja, genau. Er wurde ebenfalls hereingelegt und befindet sich, genauso wie ich, auf der Flucht.«
»Was gedenkst du zu tun?«, wollte Ganesh wissen.
»Ich werde dir ein Bündel Dollarnoten in die Hand drücken und deinen Münzfernsprecher benutzen, um jemanden anzurufen, der mir eventuell behilflich sein kann«, erklärte Gungnir.
»Mit meiner Hilfe kannst du jederzeit rechnen. Auch mit der meiner Brüder. Ich habe übrigens erzählt, du seist aus England, wo deine Familie schon seit Generationen lebt. Deshalb könntest du weder unsere Sprache sprechen, noch unsere Schrift lesen. Ist doch besser, sie wissen gleich Bescheid, dass du nicht mit unseren Sitten und Gebräuchen vertraut bist, oder?«
»Danke, Ganesh. Äh, was machst du eigentlich mit der ganzen Kohle, die du mit deinen ›Geschäften‹ verdienst?«, erkundigte sich Gungnir. »Du lebst nach wie vor völlig bescheiden. Wenn ich das mal so fragen darf...«
»In meiner Religion wird Reichtum nicht verpönt, sondern es gilt, dass man der fleißigste Bauer, der cleverste Geschäftsmann und der gelehrigste Beamte sein kann. Ich habe zwei Söhne, die sollen es mal besser als ich haben. Der Älteste, Naresh, studiert in Jaipur Rechtswissenschaften. Du weißt schon, damit mich jemand davor bewahrt, in den Knast zu wandern«, grinste Ganesh. »Und mein jüngerer Sohn Harish, der dort hinten irgendwo im Laden herumstrolcht, und mit seinem Smartphone herum daddelt, anstatt sich zu sputen, um rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen, der soll mal Betriebswirtschaftslehre studieren und meine Geschäfte übernehmen. Tja, Bildung ist teuer. Und ich muss etliche Beamten hier im Staate Rajasthan schmieren, damit sie weiterhin weggucken.«
»Hm, du rauchst. Aber verbietet es deine Religion nicht, Tabak zu rauchen?«, hakte Gungnir nach.
»Ertappt, aber das bleibt unter uns. Natürlich sollte ich auch ein ehrlicher Geschäftsmann sein. Aber das Leben ist reizlos, so gänzlich ohne kleine Laster.«
»Töchter hast du keine?«, fragte Gungnir neugierig.
»Nein, und wenn ich dein lüsternes Gesicht so sehe, bin ich wirklich froh, keine zu haben. In meiner Familie werden seit Generationen nur männliche Nachkommen geboren. Außerdem, wir leben in Indien. In diesem Land als Frau geboren zu sein, kommt einer Strafe gleich. Du hast sicherlich des Öfteren die Stimmen der Auslandspresse vernommen, oder?«
»Sicherlich, aber es scheint die inländische Presse wenig zu jucken, wenn junge Frauen von mehreren Männern vergewaltigt, und anschließend ermordet werden, oder?«
»Nein, hier werden immer noch gerne die Augen vor drängenden Problemen verschlossen. Früher oder später müssen wir Frauen von außerhalb importieren, denn hier gibt es zu wenige davon. Wenn eine Familie eine Tochter bekommt, wird diese mancherorts wie eine ungewollte Katze ertränkt, weil die armen Familien es sich nicht leisten können, ihre Tochter mit einer gebührenden Mitgift auszustatten. Überwiegend von solchen, die ohnehin an das Kastensystem glauben«, meinte der Sikh, der sich glücklich schätzen konnte, nicht diesem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. In seiner Religionsgemeinschaft wurden Frauen mit Nachnamen »Kaur« angesprochen, was so viel wie »Prinzessin« heißt, aber grammatikalisch korrekt »Prinz« bedeutet. Sie werden gleichrangig wie Männer behandelt. Die Sikhs sind Monotheisten, glauben an einen Gott, der weder männlich, noch weiblich ist. Sie lehnen dabei das Kastensystem strikt ab, weil sie der Meinung sind, jeder Mensch habe ein Recht auf freie Entfaltung. Doch gänzlich fernhalten können sie sich davon nicht, weil ihr Alltag damit durchtränkt ist, eben mit solchen Menschen an einem Ort zu leben, die dem hinduistischen Glauben angehören.
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