Unser Harry fiel auf die Knie, hob die Hände und begann in einem seltsamen Singsang zu brabbeln. Sofort riss ich ihn wieder auf die Füße, wobei ich ihn beinahe ein zweites Mal über die Mauer warf, weil er in seinem ausgedörrten Zustand leicht wie eine Feder war.
»Hör sofort mit diesem Ohren betäubenden Lärm auf!«, keifte ich. »Du wolltest Wasser, und nicht irgendwelche Katzen ansingen! Ist dir eigentlich gar nicht aufgefallen, wie hungrig sie dich ansehen? Los, komm jetzt mit!«, packte ich ihn am dünnen Ärmchen und zog ihn mit mir. Mit einem Blick ins Schloss öffnete ich telekinetisch die Tür zu den Gewächshäusern, schob Harry hinein und drückte ihm einen Gartenschlauch in die Hand. »Hier, jetzt bekommst du genug Wasser für drei!«
Während Harry noch immer wie gebannt in den Gartenschlauch blickte, drehte ich hämisch grinsend den Wasserhahn auf. Er gab einen Giekser von sich, weil das Wasser eiskalt aus der Leitung kam, genoss aber letztendlich die Dusche. Fasziniert sah ich zu, wie unser Harry langsam Wasser zog und nach einer Viertelstunde, sah er beinahe wieder wie ein ganz normaler Mensch aus. Sein Alter konnte ich nur schwer einschätzen; er war auf jeden Fall älter als vierzig. Aber gut gehalten hatte er sich über all die Jahre allemal. Ein wahrer Kerl von zäher Statur, er machte auf mich den Eindruck, als sei er mehr als die Hälfte seines Lebens damit beschäftigt gewesen, körperliche Ertüchtigung zu betreiben. Zwar war er kein Riese, aber klein konnte ich ihn auch nicht nennen. Seine schwarze, verdorrte Hautfarbe hatte er inzwischen gegen einen dunkel-karamell-farbigen Teint eingetauscht. Und wie mir auffiel, war der Kerl so ganz ohne seine Binden völlig nackt. So konnte er unmöglich durch die Straßen tappen. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und machte sich am Gartenschlauch zu schaffen.
»Hey, Moment mal, Harry! Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte ich den Hirnamputierten.
»Oh, das seien eine herrliche Erfindung. Ich will das mitnehmen, dann ich habe immer genug Wasser bei mir!«, grinste er und entblößte ebenmäßige, weiße Zähne.
»Nein, das wird nicht nötig sein, wir haben hier genug Wasser, schließlich leben wir nicht in der Wüste«, versuchte ich ihm die Lage begreiflich zu machen.
»Ach, ich verstehen. Bei euch tritt mehrmals im Jahr der Fluss über die Ufer?«
»Nein, um Gottes Willen, lieber nicht, das wäre eher eine mittelschwere Katastrophe. Nein, wir haben ziemlich viel Regen und auch genug Grundwasser.«
»Regen?«, fragte er ungläubig. »Ich vielleicht ein oder zweimal in meinem Leben erlebt«, staunte er.
»Ja, bei euch, auf der anderen Seite des Mittelmeers, ist es schon ziemlich heiß und trocken, wie? Hier!«, warf ich ihm mein T-Shirt zu. Zum Glück trug ich noch ein Tanktop darunter. Schließlich konnte Harry nicht nackt herumlaufen. »Zieh das über, ich weiß ja, dass es bei euch so warm ist, dass man ganz gerne mal etwas unter der Gürtellinie baumeln lässt, aber hier ist es nicht erwünscht, unbekleidet durch die Straßen zu ziehen. Dadurch bekommen wir nur Ärger!«
Mit meinem T-Shirt sah er wie eine Chica nach einer IceBuckett-Challenge aus. Es wirkte beinahe schon an ihm, als trüge er ein Minikleid. Da er jetzt kein Wasser mehr brauchte, gingen wir zurück zur Mauer. »Soll ich dir drüber helfen?«, fragte ich grinsend.
Er schüttelte den Kopf und kletterte behände über die Mauer. Unten angekommen, knurrte sein Magen ziemlich laut, und trotz des T-Shirts sah man seinen Zipfel herum baumeln.
»Herrje! Der blöde Hund ist ja schon wieder da!«, stellte ich verblüfft fest. Der Köter wedelte begeistert mit dem Schwanz. »Ihr habt ihn doch nicht etwa angelockt?«
»Nein, er kam ganz von allein. Ich denke, er fühlt sich als Freak von uns angezogen. Er ist ein guter Hund«, äußerte sich Malfurion.
Er ging vor, Harry kam hinter ihm und ich bildete das Schlusslicht. Die Kinder postierten wir links und rechts.
»Hast wohl schlimmen Hunger, wie?«, fragte Malfurion den Auferstandenen emphatisch.
»Ja, ich haben eine Ewigkeit nichts mehr gegessen!«, gab er zurück.
»Geht sich scheiße, so barfüßig, wie? Vielleicht solltest du auf dem riesigen Dreibein dort reiten... Hier, nimm einen Hundekuchen«, gab ich Harry einen in die Hand.
»Hundekuchen?«, fragte er erstaunt.
»Ja, mit ganzen Hunden drin. Ist in Thailand eine echte Delikatesse«, frotzelte ich. Der Ex-Pharao schien überzeugt und biss herzhaft hinein. Der dreibeinige Hund stieß ein leises Jaulen aus und leckte seine Lefzen.
Als wir an einem Hinterhof vorbeikamen, blieb mein Schöpfer abrupt stehen, sodass es zu einer unerwarteten Karambolage kam. Harry verschluckte sich beinahe am Keks. Malfurion schien plötzlich von einer Erleuchtung heimgesucht zu werden.
»Ey, Vatter, was ist?«, schnaufte ich ärgerlich.
»Da hängt Wäsche, lasst uns Harry einkleiden!« Er schien von seiner Idee regelrecht begeistert zu sein. Vielleicht reizte es ihn, nach so langer Zeit, mal wieder etwas Verbotenes zu tun. Da sieht man es mal wieder. Meine Gegenwart schien sich negativ auf sein Verhalten auszuwirken.
»Das ist eine saublöde Idee! Es ist doch nicht mehr weit. Lasst uns lieber schleunigst zum Auto gehen!«, brachte ich meine Zweifel zu Gehör.
»Was denn?«, fragte mein Schöpfer spöttisch. »Bist du etwa zu einer alten Spaßbremse verkommen?«
»Und du alter Lüstling, willst dir ja nur die Weiber-Unterwäsche ansehen, habe ich recht?«, konterte ich.
Während wir diskutierten und ich die Kinder umdrehte...
… Ja, ich weiß, Damenunterwäsche ist eigentlich nichts Schlimmes. Aber die Frage, was in die beiden Beulen eines Büstenhalters kommt, kann schon sehr unangenehm werden...
… Also während ich die beiden Kleinen umdrehte, machte sich Haremhab an der Wäsche zu schaffen. Ich warf einen Blick über die Schulter, weil ich es äußerst verdächtig fand, wieso das alte Fledermaus-Gesicht neben mir so kicherte.
»Verdammt, warum zieht er sich ein Damennachthemd an?«, fragte ich unterirdisch begeistert.
»Keine Ahnung, vielleicht steht er auf Damenwäsche?«
»Oh, toll, dann seid ja ihr schon zwei, hä?«, knurrte ich und lief zum Pharao.
»Sehe ich königlich aus?«, fragte Harry, nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Ja, wie Mary-Anne á Moon, die Dragqueen! Zieh den Frauenfummel aus! So kannst du unmöglich unter die Leute gehen. Männer tragen heutzutage keine Kleider, erst recht keine Damennachthemden mit Dekolleté und Rosenmuster!«, sagte ich wohl etwas zu laut, denn im oberen Stockwerk ging ein Licht an.
Seufzend zog er das Nachthemd wieder aus. Schnell nahm ich Augenmaß, rupfte beinahe in Schallgeschwindigkeit ein T-Shirt, eine Jeans, eine Unterhose und Socken von der Leine. Vor einer Haustür fand ich ein passables Paar Turnschuhe herumstehen.
»So, und jetzt anziehen!«, knurrte ich ungeduldig. Leider tat sich Harry mit moderner Kleidung ein wenig schwer. Wichtig war, dass er zuerst die Unterhose anzog. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, seit des Erfindung des Reißverschlusses, sollte niemand männlichen Geschlechts, als Neubürger dieser modernen Welt, auf eine Unterhose verzichten, es sei denn, er ist beschnitten...
Ich wurde nervös, weil über uns ein Fenster aufging und eine aufgebrachte Dame anfing, uns in einem langen Redeschwall zu beschimpfen. Italienisch ist eine äußerst faszinierende und melodische Sprache. Keine Sprache der Welt klingt sowohl in gesungener, als auch in gefluchter Form, so harmonisch wie das Italienische. Nur der Inhalt dieses Fluchens gefiel mir absolut nicht. Und schon kam der erste Blumentopf geflogen, der krachend neben unseren Füßen zerschellte. Scherben und Blumenerde flogen uns um die Ohren.
Noch ehe Harry die Sneaker zubinden konnte, hatte ich ihn mir geschnappt und unter den Arm geklemmt. Die Carabinieri konnten wir im Moment wirklich nicht gebrauchen. In Malfurions Augen erschien ein erregtes Glimmen. Dieser Nervenkitzel gefiel ihm offenbar. »Ich liebe diese italienischen Frauen«, schwärmte er. »Niemand sieht so atemberaubend aus, wie eine wütende, heißblütige Italienerin!«
Читать дальше