Als ich in die kühle Nachtluft und den peitschenden Regen vor dem Krankenhaus hinaus trat, fasste ich einen Entschluss: Ich würde eine Möglichkeit finden, den Tod zu überlisten. Mich würde er nicht holen, koste es, was es wolle ...
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Seit über einer halben Stunde ratterte der Zug schon Richtung Süden. Lilly war an der New Jersey Transit Middletown Train Station eingestiegen und hatte sich mit ihrem riesigen Koffer in eine freie Viererbank gesetzt. Mit pochendem Herzen hatte sie die ganze Zeit über aus dem Fenster geschaut. Die Fahrt bis zur Pennsylvania Station in Manhattan sollte nur vierzig Minuten dauern. Lilly hatte kurz darüber gestaunt, wie schnell man diesen Sündenpfuhl erreichen konnte. Damals, als sie zur Identifizierung der Leiche ihrer Mutter nach NYC gefahren war, hatte ihre Tante Joy sie mit dem Auto gebracht. Lilly hatte keine Erinnerungen mehr daran, es war wie ein Filmriss in ihrem Gedächtnis. Davor und danach war sie nie in New York City gewesen.
Für die Zugfahrt hatte sie einundzwanzig Dollar bezahlt, eine Summe, die zwar ein Loch in ihr mageres Budget riss, aber als Investition in die Zukunft geopfert werden musste. Das Telefongespräch mit Gabriel Black, dem Besitzer des Moonbeam Bar & Restaurant, war kühl und nüchtern verlaufen, er hatte ihr jedoch angeboten, sich das Lokal anzusehen, zur Probe zu arbeiten und bei beiderseitigem Gefallen dauerhaft zu bleiben. Lilly hatte es überrascht, dass es so schnell ging und fragte sich, wo der Haken war. Immerhin hatte er sie noch nie gesehen. Mr. Black war jedoch sehr angetan gewesen, als sie erzählte, dass sie bereits Erfahrungen im Hotelbetrieb gesammelt hatte. Vermutlich hatten sich sonst nur verwahrloste drogenabhängige Penner um die Stelle beworben, die in ihrem ganzen Leben noch keinem festen Tagesrhythmus nachgegangen waren. In Lillys Vorstellung bestand fast ganz New York City aus dieser Spezies Mensch, es hätte sie eigentlich nicht verwundern sollen. Die Tatsache, dass Mr. Black sie sofort zum Probearbeiten eingeladen hatte, milderte diesen Eindruck nicht gerade ab. Wer Lilly mit Kusshand nahm, musste wirklich schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Ihrer Cousine hatte sie natürlich nicht die Wahrheit erzählt. Sie konnte sich ihr Gesicht mit den skeptisch nach oben gezogenen Augenbrauen bildlich vorstellen. Eine Miene, die nach 'Hast-du-den-Verstand-verloren?!' schrie. Nun ja, vielleicht hatte sie das tatsächlich. Anders konnte sie sich selbst nicht erklären, weshalb sie im Zug nach NYC saß. Eine Kurzschlussreaktion, die, wenn sie Glück hatte, endlich eine positive Wendung in ihr Leben brachte, wobei die Begriffe 'positiv' und 'New York City' eigentlich nicht zusammenpassten. Selbstverständlich hatte Lilly sich eine Hintertür offen gelassen, indem sie Alexis erzählt hatte, sie würde lediglich mit alten Schulfreunden ein paar Tage verreisen, weshalb sie nur mit einem großen Koffer aufgebrochen war. Sollte die Sache ein Reinfall werden, könnte sie nach ein paar Nächten in einem billigen Hotel noch immer zu Alexis zurückkehren, und niemand würde je Fragen stellen. Sollte es wider Erwarten mit dem Job und einer Unterkunft klappen, würde sie ihre restlichen Habseligkeiten abholen und Alexis mit einem breiten Grinsen im Gesicht verkünden, dass sie nun ihr eigenes Leben führen würde. Natürlich tat es ihr weh, ihre Heimatstadt und das Grab ihrer Mutter zurückzulassen, aber Middletown war nicht aus der Welt. Vierzig Minuten Zugfahrt lagen absolut im grünen Bereich.
Lilly hatte gehofft, auf der Fahrt einen ersten Eindruck von der Stadt zu erhaschen, aber der Zug war bereits viele Meilen vor New York in einen unterirdischen Tunnel eingetaucht. War vielleicht auch besser so, dachte Lilly. Sonst hätte ich womöglich direkt einen Schock bekommen. Bei ihrem letzten und einzigen Besuch in der Stadt war es bereits dunkel gewesen und es hatte in Strömen geregnet. Lilly hatte damals keine Augen für ihre Umgebung gehabt. Jetzt war es drei Uhr nachmittags. Unruhe und Nervosität machten sich in ihr breit. Ihre verschwitzten Finger krampften sich um den Griff ihres Koffers, als eine blechern klingende Computerstimme die Endhaltestelle ankündigte. Der Zug bremste ab und führ quietschend aus dem dunklen Tunnel in ein hell erleuchtetes Gleis ein. Lilly atmete durch und ließ sich mit der Menschenmenge aus der Tür drängen. Auf dem Bahnsteig herrschte Betriebsamkeit wie in einem Ameisenstaat. Es ging auf die Rush Hour zu, kein guter Zeitpunkt, um in einen Bahnhof einzufahren, der täglich über sechshunderttausend Passagiere aufnahm.
Sie schleppte ihren schweren Koffer die Treppe hinauf ins erste Untergeschoss des Bahnhofs. Die Leute um sie herum rempelten sie an und hetzten an ihr vorbei, ohne sie auch nur anzusehen. Jeder schien es eilig zu haben. Einige Jugendliche trugen knallbunte Jacken und ebenso grelle Schuhe, ihre Haare waren nicht weniger farbenfroh. Der Geräuschpegel war enorm.
Lilly suchte vergebens nach einem Ticketautomat für die New Yorker U-Bahn, schleifte ihren Koffer planlos hin und her durch die Bahnhofshalle und musste schließlich doch jemanden um Rat fragen, eine dralle dunkelhäutige Dame am Infoschalter, die auffällig Kaugummi kaute.
Der Automat befand sich in einer finsteren Ecke im hintersten Winkel der fensterlosen Halle. Davor hatte sich eine lange Schlange gebildet. Als Lilly es nach weiteren zwanzig Minuten endlich geschafft hatte, dem Automaten das Ticket zu entlocken, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich erst einmal auf ihrem Koffer nieder, um durchzuatmen. Wobei 'durchtatmen' relativ war, denn es war stickig und stank nach einer Mischung aus Parfüm, Schweiß und anderen Dingen, die sie nicht benennen wollte. Wo war sie denn hier bloß gelandet? Wenn der Rest der Stadt genauso aussah, dann wünschte sie sich schon jetzt auf Alexis' Couch zurück.
Als Lilly wieder zu Kräften gekommen war, stieß sie ein Seufzen aus, griff in ihre Jackentasche und faltete den U-Bahnplan aus, den sie am Infoschalter bekommen hatte. Ihre Tante Rose, zu der sie zu gelangen gedachte, wohnte in der einundfünfzigsten Straße. Zwei Stationen mit der U-Bahn, die blaue Linie, uptown. Das schien eine machbare Aufgabe zu sein. Lilly hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, zudem hatte sie die Schwester ihrer Mom telefonisch nicht erreichen können. Sie hatte lediglich eine Adresse aus einem alten Notizbuch ihrer Mutter. Joy und Rebecca hatten mit der dritten Schwester, die es schon in jungen Jahren in die Großstadt gezogen hatte, zuletzt nicht mehr viel Kontakt gehabt. Lilly hoffte jedoch, dass Rose sich noch an sie erinnern würde. Sie würde nicht von ihr verlangen, Lilly bei sich aufzunehmen (obwohl das natürlich grandios wäre), aber vielleicht konnte sie ihrer Nichte wenigstens ein paar Tipps geben oder günstige Unterkünfte empfehlen. Es konnte nicht schaden, eine Kontaktperson, der man vertraute, an seiner Seite zu wissen. Hier konnte man vermutlich sonst niemandem trauen.
Lilly betrat den gesicherten Bereich der U-Bahn, indem sie ihr Ticket durch das Lesegerät zog und ein Drehkreuz passierte. Sie schleifte ihren Koffer durch eine ganze Anzahl dreckiger schmaler Gänge, immer den Schildern hinterher, die sie letztlich eine Treppe hinunter und auf einen Bahnsteig lotsten, der zumindest so aussah, als sei sie hier richtig. Viele Menschen warteten bereits auf die nächste Bahn, die meisten von ihnen hoben nicht einmal den Blick, als Lilly an ihnen vorüber ging. Sie waren mit ihren Smartphones beschäftigt, manche lasen in einem Buch. Besonders gefährlich sahen die Leute zumindest nicht aus, was Lilly vorerst ein Gefühl der Sicherheit gab. Von irgendwoher drang Musik an ihre Ohren. Es hörte sich an, als würde jemand Gitarre spielen und dazu singen.
Die Bahn fuhr ein, Lilly quetschte sich mit hunderten Mitreisenden in den Mittelgang und bekam ein winziges Stück von der Haltestange zu fassen, ehe sich der Zug ratternd und polternd in Bewegung setzte.
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