Lilly klickte sich auf die Seite eines Diners, das sich 'Moonbeam Bar & Restaurant' nannte. Die Fotos ließen auf eine klassisch amerikanische Lokalität schließen: eine von Neonreklame eingerahmte Fassade, gepolsterte Sitzbänke, eine riesige amerikanische Flagge an der Decke und ein Flachbildschirm neben dem Tresen. Von den Angestellten gab es leider keine Fotos, auch sah man keine Gäste. Anscheinend hatte man die Bilder nach Ladenschluss aufgenommen. Das Lokal lag ebenfalls mitten in Manhattan, Madison Avenue, Ecke 57. Straße.
Lilly verlor bereits das Interesse, als ihr Blick auf einen kleinen Link am unteren rechten Bildschirmrand fiel, der mit 'Jobs im Moonbeam' betitelt war. Es gab eine einzige Stellenanzeige, die mit keinem Datum versehen war. Wer wusste, wie alt die schon war?! Jedenfalls suchte das Lokal eine Servicekraft mit Erfahrung in der Gastronomie. Lilly merkte auf. Sie hatte im Hotel öfter in der angeschlossenen Bar gekellnert. Andere Anforderungen wurden anscheinend nicht gestellt. Es war die erste Stellenanzeige, die sie heute gelesen hatte, in der man nicht schon mit zwölf den Collegeabschluss gemacht haben musste, um mit zweiundzwanzig auf zehn Jahre Berufserfahrung zurückgreifen zu können. Mindestens zwei Fremdsprachen verstanden sich natürlich von selbst. Nein, in der Anzeige vom Moonbeam stand nur, dass man - falls möglich - schon einmal gekellnert haben sollte. Hmm, ob Lilly sich die Telefonnummer aufschreiben sollte? Aber das war doch totaler Quatsch, das Lokal befand sich in New York City, eine Stadt wie ein Schandfleck, und noch dazu viel zu weit weg von ihrem geliebten Middletown! Wenn sie kellnern wollte, würde sie sicherlich auch etwas in der Nähe finden. Alexis konnte sie von ihren Plänen nichts erzählen, wenn sie sich nicht freiwillig einer Dosis Spott und Häme unterziehen wollte. Dabei war Alexis' Job nun wahrlich auch nicht besser. Lilly konnte sich ihre Cousine bildlich vorstellen, wie sie zeterte, Lilly könne sich auch gleich in einem Bordell bewerben, wenn sie in einer Bar arbeiten wollte, bla bla. Dennoch verstaute Lilly den Zettel mit der Telefonnummer tief in ihrer Hosentasche.
***
25.08.1987, New York City
Schon, als ich das Krankenhaus betreten hatte, wusste ich, dass ich es als ein anderer Mann wieder verlassen würde. Ich hatte versucht, mich gegen meine Emotionen zu wehren und mich zu verschließen. Aber es ist mir nicht gelungen. Jahrelang habe ich eine Fassade zur Schau getragen, weil ich hart sein wollte - hart sein musste . Es ist egal, wie dick die Mauern sind, die man um sich herum errichtet, das Leben beweist einem immer wieder, dass es über Werkzeuge verfügt, sie einzureißen. Seit ich Laurie kenne, habe ich mir zum ersten Mal überhaupt Gedanken über meine Zukunft gemacht. Ich habe mich im Glück gewähnt und mich wie ein kleiner Junge verhalten, wenn sie mich unschuldig angelächelt hatte. Ich glaubte, mein Leben würde endlich eine Wendung nehmen. Aber es währte nur sehr kurz. Die Realität holte mich wenige Wochen später ein, als ich von der Krankheit meiner Schwester erfuhr. Mir ist klar geworden, dass eine Zukunft nichts Selbstverständliches ist, und mir scheint sie ohnehin nicht vergönnt zu sein.
Nun liegt sie hier im Lenox Hill Hospital und die Maschinen, die um ihr Bett stehen, schweigen, die Bildschirme sind schwarz. Die Ärzte konnten sie nicht retten. Binnen weniger Monate hat der Krebs sie dahingerafft, sie Stück für Stück aufgefressen und zu dem werden lassen, was mir mehr Angst eingejagt hat als alles andere zuvor in meinem Leben.
Sie ist sehr dünn, ein blasser Arm hängt über der Bettkante. Ihre Augen sind geschlossen, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht ist alles andere als friedlich. Sie ist abgemagert, sieht um Jahre gealtert aus, nicht wie eine Fünfundzwanzigjährige in der Blüte ihres Lebens. Um ihren Mund liegt ein verhärmter Zug, sie hat mit ihrem Schicksal gehadert. Keine heroische Geschichte einer tapferen Frau, die ihr Schicksal mutig annahm und bis zuletzt Freude ausstrahlte. Nein. Das hier war die hässliche Seite einer Krankheit. Angst, Selbstaufgabe, Verzweiflung und Schmerzen waren an der Tagesordnung gewesen.
Ich habe nie viel von meiner zerrütteten Familie gehalten, meine Zwillingsschwester Carol war das einzige menschliche Wesen, das mir etwas bedeutet hatte - bevor Laurie in mein Leben getreten war. Weshalb hasste mich das Schicksal so sehr?
Mein Rücken schmerzte, weil ich stundenlang auf dem unbequemen Krankenhausstuhl neben Carols Bett saß und immer wieder über ihre kalten Finger strich. Ich war alles, was sie hatte und vermutlich der einzige, den ihr Tod wirklich berührte. Wir waren uns immer nah gewesen, obwohl wir unser eigenes Leben geführt hatten. Ich habe sie beschützen wollen, habe ihr damals sogar eine geknallt, als ich sie das erste Mal mit Drogen erwischte. Sie sollte nicht dieselben Fehler machen wie ich. Als wir noch im Haus meines Vaters lebten, musste ich sie vor seinen Schlägen bewahren und sie trösten, wenn er im Suff ihr Zimmer verwüstete. Unsere Mutter war schon geflüchtet, als Carol und ich noch zur Grundschule gingen. Ich hasste sie dafür, dass sie uns mit einem Schläger allein gelassen hatte. Dieser Penner lief noch immer putzmunter herum, während meine Schwester tot in diesem sterilen unpersönlichen Krankenhausbett lag. Das Leben war nicht fair.
Ich fuhr herum, weil die Tür hinter mir knarrte. Augenblicklich stieg Wut in mir auf, als ich in ein altbekanntes Gesicht sah.
»Was willst du hier? Verpiss dich!« Ich räusperte mich, weil meine Stimme vom langen Schweigen belegt war.
»Ich wollte mich nur kurz verabschieden. Ist doch mein Recht, oder?«
In einer automatisierten Bewegung sprang ich vom Stuhl auf, verkrampfte die Muskeln und ballte die Hände neben dem Körper zu Fäusten. »Bist du wieder betrunken? Du hast von allen Menschen das wenigste Recht, Carol noch einmal zu sehen. Hau ab!« Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich laut wurde und ihn anschrie. Er widerte mich an. Er trug einen fleckigen Pullover und eine speckige Baseballcap, unter seinen Augen leuchteten tiefe dunkle Ringe.
»Sie war meine Tochter! Von dir lasse ich mir doch nichts vorschreiben, Bürschchen!« Er tat einen Schritt auf mich zu und hob drohend die Hand, nahm sie jedoch wieder herunter. Ich war nicht mehr der schwache kleine Junge, den man ungestraft schlagen konnte. Ich überragte meinen Vater um eine halbe Kopflänge.
»Wenn sie dir je irgendetwas bedeutet hat«, ich senkte bedrohlich die Stimme, »gehst du jetzt und lässt ihr ihren Frieden. Sie hätte dich nicht sehen wollen. Wo warst du, als es ihr schlecht ging? Wer hat ihre Hand gehalten, wenn sie Schmerzen hatte? Du etwa? Spiel bloß nicht den liebenden Vater, sondern zieh Leine und misch dich nie wieder in mein Leben ein.«
»Natürlich, weil du auch ein Heiliger bist, der nie etwas falsch gemacht hat!« Er stand so nah vor mir, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Du machst mit Minderjährigen rum, findest du das gut?«
»Was hat Laurie damit zu tun? Lass sie aus dem Spiel!« Jetzt wurde ich doch wieder laut, obwohl ich es mir verkneifen wollte.
Die Tür knarrte erneut. Eine zierliche blonde Krankenschwester streckte den Kopf durch den Türspalt. »Was ist hier los? Meine Herren, ich muss sie bitten zu gehen, wenn sie sich respektlos verhalten. Es ist ohnehin schon spät.« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Sie sind seit Stunden hier ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.«
Ich knurrte und presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, erwiderte aber nichts. Mit einem Mal überkam mich ein Fluchtinstinkt. Ohne meinen Vater noch eines Blickes zu würdigen, drehte ich mich noch einmal zu Carol um. Ich kämpfte mit den Tränen. Dann wandte ich mich ab und stapfte aus dem Krankenzimmer, wobei ich meinen Vater, der die Bezeichnung nicht verdiente, anrempelte. Die Krankenschwester sprang vorsorglich aus dem Weg. In mir brodelte ein Vulkan aus Wut und Verzweiflung. In diesem Zustand würde ich heute nicht mehr zu Laurie fahren. Die Gefahr war zu groß, dass ich mich daneben benahm. Ich war völlig neben der Spur. Der Tod meiner Schwester riss mir den Boden unter den Füßen weg. Weshalb starben Menschen? Weshalb ausgerechnet sie? Weshalb so qualvoll? Es schauderte mich bei dem Gedanken, so zu enden wie sie. Ich habe für sie stark sein müssen, habe mir nicht anmerken lassen dürfen, dass mich ihr Anblick entsetzte. Jetzt brachen die Emotionen aus mir heraus, allem voran nackte Angst. Sie war meine Zwillingsschwester gewesen, trug auch ich die Krankheit wie eine tickende Zeitbombe in mir? Verdammt, ich hatte Angst !
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