Als sie mit dem Löffel in der Tasse rührte und das Metall gegen das Porzellan schlug, durchfuhr sie mit einem Mal heftiger Schwindel, als hätte das klimpernde Geräusch etwas in ihrem Hirn ausgelöst, das sie nun nicht mehr zurückdrängen konnte. Lilly krallte sich an den Tresen, doch sie konnte sich nicht auf dem Hocker halten. Sie spürte noch, wie ihr Hinterteil hart auf dem Fliesenboden aufschlug, ehe es schwarz um sie herum wurde. Nur langsam lichtete sich der Nebel wieder, doch Lilly saß nicht länger in Alexis' Küche, sondern beobachtete eine junge Frau, die an einem dunklen Holztisch vor einem großen Fenster saß und ebenfalls in einer Tasse rührte. Lilly wusste, dass sie träumte, konnte sich von den Bildern jedoch nicht lösen, als hielte sie eine Macht darin gefangen. Hatte sie das nicht schon einmal erlebt?
Leise Musik drang an ihre Ohren, irgendein Klassiker aus den Achtzigern. Sie nahm den Geruch von Tabak, Bier und Frittierfett wahr.
Die Fremde sah einsam und gedankenverloren aus. Auf dem Tisch vor ihr stand ein hässliches Gesteck aus Kunstblumen und eine Kerze, wie sie es nur in billigen Restaurants gab. Lilly versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, aber immer, wenn sie es fokussieren wollte, verschwamm das Bild vor ihren Augen. Stattdessen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Serviette, die neben der Tasse auf dem Tisch lag. Sie war weiß, mit einem runden Logo darauf. Lilly konnte es nicht genau erkennen, aber darunter stand das Wort 'Sweetwaters NYC' in künstlerisch verschnörkelter Schrift.
Die junge Frau sah auf, als hätte etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem unschuldigen Lächeln. Lilly sah es nicht direkt, aber sie spürte es. Die Dame freute sich.
Jemand setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, aber Lilly konnte nicht erkennen, wer es war. Das Bild löste sich allmählich auf und zersetzte sich wie Säure, ehe sich die Konturen von Alexis' Küche wieder aus dem Nebel schälten.
Lilly saß auf dem Boden, die zerbrochene Tasse neben ihr. Eine Kaffeepfütze hatte sich über die Fliesen verteilt und sich in Lillys Jogginghose gesogen. Super. Jetzt würde sie Alexis die zerbrochene Tasse erklären müssen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie herunter gefallen war. Lilly quälte sich zurück auf die Beine. Ihr war übel und der Appetit auf Kaffee war ihr gründlich vergangen. Vielleicht sollte sie tatsächlich einen Arzt aufsuchen. War sie verrückt? Sie hatte bereits von Tagträumen gehört, aber niemals davon, dass sie so real sein konnten. Dies war schon die zweite Vision, die Lilly fast bewusstlos hatte werden lassen - zum Glück besaß sie kein Auto, hinter dessen Steuer ihr das hätte passieren können. Was das Ganze keineswegs in ein besseres Licht rückte. Lilly war sich sicher, beide Male dieselbe Frau gesehen zu haben. Sie war ihr völlig fremd. Zufall? Spielten ihre Sinne ihr einen Streich? Weshalb träumte sie dann nicht von einem knackigen hübschen Kerl, sondern ausgerechnet von einem unscheinbaren Mädchen, das nicht einmal volljährig zu sein schien?
Fasste man die Fakten nüchtern zusammen, blieben also ein Friedhofsgeist und zwei Visionen übrig, und das innerhalb von zwölf Stunden. Ziemlich beunruhigend.
Nachdem Lilly sich eine frische Hose übergestreift und die Sauerei in der Küche beseitigt hatte, setzte sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und tat eine ganze Weile lang nichts als der tickenden Uhr zu lauschen. Sie war kaum in der Lage, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen. Sie fühlte sich müde, zerknirscht und extrem besorgt.
Nach ungezählten Minuten schreckte sie auf, weil ihr Smartphone, das noch immer in ihrer Umhängetasche neben der Couch steckte, die Titelmelodie ihrer Lieblingsserie zum besten gab. Mit fahrigen Fingern fischte sie es hervor. Es war Mr. Benett, der fragte, ob sie heute Abend noch einmal vorbeikommen könne, weil er versehentlich die Sender seines Fernsehers verstellt hatte. Lilly verdrehte die Augen, sagte aber zu. Mr. Benett hätte genauso gut seinen nichtsnutzigen Sohn anrufen können, aber er schien Lillys Gesellschaft zu bevorzugen. Nun gut, also wieder eine Handvoll Münzen mehr aus seinem Sammelglas. Als Lilly auflegte, fasste sie einen Entschluss. Nicht, dass sie den nicht schon tausend Mal zuvor gefasst hätte, aber diesmal wollte sie - wirklich! - Taten folgen lassen. Es konnte so nicht weitergehen, es musste sich etwas ändern in ihrem Leben. Schnell. Also befolgte Lilly den Rat ihrer Cousine und setzte sich vor den Laptop am Esstisch.
Sie durchkämmte zunächst die großen Portale für Stellenanzeigen, gab ihre Postleitzahl ein und benutzte die Umkreissuche, die sie zunächst auf zehn Meilen beschränkte. Okay, die Suchmaschine spuckte nichts Brauchbares aus. Wäre auch zu schön gewesen. In der Nachbarstadt wurde ein Busfahrer gesucht. Da Lilly keinen Führerschein besaß, grenzte es fast an Ironie. Dann also den Umkreis erweitern. Diesmal waren die Ergebnisse ergiebiger, aber Lilly war weder gelernte Buchhalterin noch traute sie sich eine Führungsposition im Bereich Kommunikationsmanagement zu, zudem sie nicht einmal einen Collegeabschluss besaß. Dass sie gut kommunizieren konnte, würde die Herren der Firma Grant & Herth sicher nicht von ihrer Eignung überzeugen.
Lilly seufzte und starrte den Bildschirm ratlos an. Das war wohl nix. Verdammt. Sie stützte ihren Kopf in die Hände und überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Herrje, sie wollte nicht bei Alexis versauern! Das würde sie früher oder später in den Wahnsinn treiben.
Sie klickte noch ein wenig bei Facebook und Youtube herum, um sich abzulenken. Der Haushalt konnte warten. Alexis würde nicht vor heute Nachmittag von der Arbeit zurück sein. Lilly hatte also alle Zeit der Welt, um sinnlosen Tätigkeiten nachzugehen.
Irgendwann durchzuckte sie eine Idee. Sie fühlte sich mit einem Mal wie ein Schulmädchen, das man beim Rauchen erwischt hatte. Als wäre sie in Begriff, etwas höchst Dämliches zu tun, für das man sich schämen musste. Mit geröteten Wangen öffnete sie die Startseite einer großen Suchmaschine und fütterte sie mit dem Begriff 'Sweetwaters NYC'. Sie hatte den Namen klar und deutlich auf der Serviette gelesen, und irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass er nicht ihrer Fantasie entsprungen war.
Tatsächlich spuckte das System mehrere Treffer aus, viele davon jedoch unbrauchbar. Die meisten Ergebnisse standen in keinerlei Verbindung mit einem Lokal in New York City. Auf Seite drei der Ergebnisliste stieß Lilly jedoch auf einen Eintrag, der sich auf ein Café bezog. Es war die Webseite eines Lokals, das sich 'Raindance' nannte. Lilly klickte sich durch mehrere Fotos, konnte jedoch nichts erkennen, das sie an ihre Vision erinnerte. Viel hatte sie nicht gesehen, nur eine Tischgruppe und ein Stück der Fensterfront. Auf der Seite 'Über uns' fand sie die Geschichte des Lokals. Dort wurde erwähnt, dass es in den frühen Achtzigern als 'Sweetwaters' gegründet würde, 1989 jedoch den Besitzer wechselte und fortan 'Raindance' hieß. In den Achtzigern?! Vermutlich war es doch nur ein Zufall, dass Lillys Gehirn diesen Namen hervorgebracht hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie jedoch, dass diese Visionen äußerst real gewesen waren. Sie neigte überhaupt nicht dazu, sich Dinge auszudenken, diesbezüglich war sie nie besonders kreativ gewesen. Als ihre Mutter ihr im zarten Alter von neun Jahren endlich die Haltung zweier Meerschweinchen gestattet hatte (nach wochenlangem Betteln), hatte Lilly sie einfach 'Sau 1' und 'Sau 2' getauft. Soviel zum Thema Namen und Kreativität ...
Lilly schrieb sich die Adresse des Lokals auf, obwohl sie nicht wusste, was ihr das nützen sollte. Es lag in Midtown Manhattan, in der 6th Avenue, Ecke 46. Straße.
Sie verblieb noch eine Weile auf der Webseite des Raindance, mehr aus Langeweile als aus reinem Interesse. Auf einer Linkseite waren die Webseiten anderer befreundeter Lokale angegeben, was Lilly schon seltsam vorkam. Wer machte Werbung für die Konkurrenz? Vielleicht kannten sich die Besitzer, oder die Leitung war sogar dieselbe.
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