„Wann sind Sie nach Hause gekommen?“
„Weiß ich nicht. Gegen sechs Uhr vielleicht.“
„ Haben Sie eine Leiche vor der Haustür gesehen?“
„ Eine was?“ Irene sah fragend von einem zum anderen: „ Sie machen keine schlechten Scherze?“
Hegmann holte wieder seinen Dienstausweis hervor: „ Mordkommission.“
Irene staunte: „ Ist ja toll! Was für eine Leiche?“
Hegmann war verärgert. Er kam nicht von der Regenbogenpresse, um Sensationsneuigkeiten zu verkünden : „Haben Sie eine Leiche gesehen oder nicht, ja oder nein?“
„ Nee, leider nicht. War das ein Mann oder eine Frau?“ Herbert überhörte die Frage.
„ Haben Sie am Wochenende ihre Geschwister gesehen?“ Er durchblätterte flüchtig seine Fragebogen: „ Rita, Susanne und Lilly. Das waren doch die Namen?“
„ Susanne und Rita Schwitters sind meine Stiefschwestern, Lilly Naumann ist meine Halbschwester.“
„ Waren die am Wochenende hier in der Wohnung?“
Irene sah flüchtig ihre Mutter an, dann ging sie zum Fenster und schaute auf die Straße.
„Wenn Sie mir hier keine Antwort geben können, kommen Sie morgen früh um zehn Uhr zum Polizeipräsidium Zimmer 2043.“
Hegmann packte seine Sachen zusammen und ging. Das wurde ihm zu bunt. Als er die Wohnung verließ, hörte er hinter sich Schreien und Krachen. Irgendetwas wurde zerbrochen. Himmel, war das eine Wirtschaft! Ein Mann kam durch die Haustür. Er war total betrunken. Hegmann schätze ihn auf Anfang vierzig. Er war ungefähr ein Meter dreiundachtzig groß und korpulent. Der Mann war hochrot im Gesicht. Er schwitzte und stöhnte. Hegmann hatte einen Verdacht. Er sprach den Mann an: „Sind Sie Herr Schwitters? Ewald Schwitters?“ Der Mann atmete schwer.
„ Kriminalpolizei.“
Der Mann starrte ihn ausdruckslos an, setzte sich auf die Treppe, die in den ersten Stock führte, legte den Kopf ans Geländer und fing an, mit offenem Mund zu schnarchen. Die Tür zur Nachbarwohnung wurde geöffnet. Frau Elster kam ins Treppenhaus. Sie war alt, verhutzelt und mager: „Herrn Schwitters kriegen Sie so schnell nicht wach.“
„Ja so, das ist Herr Schwitters?“, Hegmann zeigte auf den schlafenden Mann .
„ Der trinkt wie ein Loch. Das ganze Wochenende ist er nicht nach Hause gekommen. Den kriegen sie aus der Kneipe nicht mehr raus. Sie könnten den in Stücke schlagen, der gibt keinen Piep von sich.“
Frau Elster zeigte bedeutungsvoll auf die Nachbartür und kicherte. Aus der Wohnung von Schwitters kam lautes Schreien. Hegmann hatte genug. Er ging nach draußen.
Die Nachforschung
Am nächsten Morgen, pünktlich um zehn Uhr, meldete sich Irene Naumann im Polizeipräsidium, Zimmer 2043. Hegmann ließ sie eine halbe Stunde warten. Es bereitete ihm kein Vergnügen, sich mit den Angelegenheiten der Reichenberger Straße zu befassen. Er holte einen Kollegen zur Beglaubigung der Aussage. Irene war jetzt dezent und geschmackvoll gekleidet und tadellos frisiert. Sie war eine auffallend hübsche Person. Sie war selbstsicher, zu selbstsicher.
„Waren Ihre Geschwister am Wochenende in der Reichenberger Straße?“
„Ja.“
„Wann?“
„ Am Samstagnachmittag war ich erst am Flughafen und habe mir die Haare schneiden lassen. Susanne arbeitet im Friseurgeschäft am Flughafen. Ich kann jederzeit zu ihr kommen. Susanne hat mich dann um acht Uhr abends zu Hause abgeholt. Wir sind zum Riverboat gefahren. Rita kam auch mit. Wir waren hier ungefähr zwei Stunden und haben ein paar Jungen aufgelesen. Danach sind wir weiter in eine andere Disko, Rita und ich. Susanne wollte nicht mitkommen. Sie hatte eine Verabredung mit ihrem Freund. Das ist kein Disko-Typ, der ist stinklangweilig, Betriebswirt. Uns will er nicht treffen. Er will mit der ganzen buckligen Familie nichts zu tun haben, sagt er.“
Herbert unterbricht sie: „ In welche Disko sind Sie dann gegangen ?“
„ Ich sagte Ihnen schon, ich kann mich nicht an alle Namen erinnern, auch nicht an die Reihenfolge. In der Kantstraße waren wir auch. Rita habe ich irgendwo unterwegs verloren. Die hat sich mit ein paar Typen abgesetzt. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Zum Schluss bin ich in die Piano-Bar gegangen. Lilly arbeitet da am Wochenende. Die hat mich nach Hause gebracht.“
„ Um sechs Uhr, sagten Sie?“
„Kann sein, weiß ich aber nicht genau. Da müssen Sie Lilly fragen.“
„Wo kann ich Ihre Schwestern erreichen?“
„Weiß ich nicht, jedenfalls nicht in der Reichenberger Straße, die wurden da rausgeschmissen.“
„Wie bitte?“, Kommissar Hegmann war überrascht , „Frau Schwitters, ich meine Ihre Mutter, sagte …“
„Ja, die sollen da offiziell wohnen, aber die dürfen sich in der Reichenberger Straße nicht blicken lassen.“
„ Können Sie mir die Anschriften Ihrer Schwestern geben?“
„Die kenne ich nicht. Ich weiß auch nicht, wo die wohnt. Susanne arbeitet in einem Friseurgeschäft am Flughafen, das habe ich schon gesagt. Lilly arbeitet am Wochenende in der Piano-Bar. Manchmal ist sie als Hilfskrankenschwester im Virchow. Ansonsten besucht sie irgendwelche Schulen oder Kurse, ich habe keine Ahnung wo. Rita wohnt bei Susanne. Susanne hat eine eigene Wohnung in Tempelhof. Das ist irgendwo in der Nähe vom Flughafen. Rita arbeitet bei Karstadt am Hermannplatz.“
„ Sie bleiben bei Ihrer Aussage, eine Leiche hätten Sie nicht gesehen?“
„Hab ich nicht, keine Spur.“
„Danke, das war alles .“
Die Piano-Bar
An den Wochenenden kamen Musikstudenten in die Piano-Bar. Sie spielten in der Regel Jazz, Blues oder Rag. Man war im Amerikanischen Sektor. Das gab den Grundton an. Das Ambiente der Bar war hierauf abgestimmt. Man gab sich modern in schwarz-weiß mit Musiknoten an den Wänden. Die Getränke hatten phantasievolle Namen wie Andante, Presto, Allegretto, Adagio molto, Moderato e grazioso, Lento, Vivace, Largo oder Forte, abhängig davon, wie viel Alkohol in die Gläser kam und in welcher Mischung mit Wodka, Gin, Whisky, Bacardi und Martini.
Die Piano-Bar war auf jung gemacht. Aber Jugend hatte man kaum noch in Berlin, nicht vor dem Tresen. Berlin vergreiste. Die Jugend reiste in den „freien“ Westen. Hier konnte man sich ein Leben aufbauen. Hier konnte man seine Zukunft planen. Berlin hatte keine Zukunft mehr.
Eine abgestandene Blondine stand hinterm Tresen. Sie war Mitte dreißig und großzügig dekolletiert. An Wochenenden war die Piano-Bar stippevoll. Dann halfen mehrere jüngere Mädchen aus. Studentinnen nannten die sich, was auch immer sie studierten.
Kriminalkommissar Hegmann kam in die Piano-Bar. Er setzte sich an den Tresen. Hinterm Tresen liefen die jungen Dinger wie aufgescheuchte Hühner herum, verwechselten Lento mit Forte, Largo mit Vivace, mixten alles Mögliche zusammen und mussten ein ganzes Register an Schlüpfrigkeiten und spöttischem Zynismus über sich ergehen lassen. Oft wurde laut protestiert und nach dem Boss geschrien.
Die Betrunkenen waren in der Regel friedlich. Zwei Gläser Schnaps, zwei Bier und dann kam der große Weltschmerz. Man mochte dies nicht und das nicht und schon gar nicht und überhaupt… traurige Unzufriedenheit im Blick, die Augendeckel auf und zu. Das waren aufgeblasene Nichtigkeiten. Das allgemeine Ambiente war ein Ritual aus Schnaps, Toilette, Rauchschwaden und Geschwafel.
Hegmann verlangte ein Bier. Ein junges Mädchen bediente ihn. Achtzehn Jahre war das Mindestalter in diesem Job, diese hier sah wie fünfzehn aus. Man konnte sich täuschen. Aber das junge Ding hatte den Job im Griff. Alle Anzüglichkeiten prallten an ihr ab. Sie hatte eine unsichtbare Glaswand um sich herum, lächelte, schenkte ein, rechnete ab, hörte zu, war aufmerksam, schnell, zuvorkommend, höflich, leise, aber immer distanziert. Jede Aufforderung zum Tanz und jede Einladung wurde abgelehnt. Sie lächelte jeden gleichbleibend und unpersönlich an. Ansonsten sprach sie wenig und von sich selber sprach sie überhaupt nicht.
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