Rolf hörte entmutigt auf, am stummen Radio zu kurbeln. Er setzte sich bei Susanne auf den Schoss. Susanne protestierte. Rolf kitzelte sie.
„ Nein... nicht... mir wird übel. ..“, Susanne wollte aus dem Wohnzimmer weglaufen, konnte aber nicht.
Helmut und Rainer tanzten im Dunkeln weiter, ohne Musik. Am Klavier wurde getrunken und gegrölt: „ Schwarzer Kater Stanislaus …“
Die ganze Wohnung lag im Dunkeln. Lilly schob sich an der Wand entlang.
„ Huh... Huh!“ Martin fühlte sich witzig. Er tastete sich vorwärts, stolperte über Lilly und fiel. Mit dem Kopf schlug er gegen die Tischkante. Ein Zahn wurde beschädigt: „ Verdammte Scheiße!“ Er wischte sich das Blut mit dem Taschentuch ab. Im Dunkeln flammten Streichhölzer und Feuerzeuge auf.
Lilly erreichte den Korridor, tastete sich bis zu ihrer Zimmertür und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab, legte sich auf ihr Bett und schlief ein. Der Lärm in der Wohnung mischte sich mit ihren verworrenen Träumen. Sie hörte einen Wasserfall und Räderrollen. Dann wurde der Lärm konkreter. Türen knallten. Jemand schrie. Die Stimme kannte Lilly. War das ein Alptraum? Lilly war mit einem Male hellwach. Sie blieb regungslos liegen und lauschte. Ihre Mutter war zurückgekommen. Wie spät war es? Fünf Uhr morgens? Wieso kamen die mitten in der Nacht wieder nach Zuhause zurück? Was war passiert? Reifenpanne? Unfall? Oder war der Schwitters wieder stinkbesoffen? Wahrscheinlich! Das war nicht das erste Mal. Was sollte sie jetzt machen? Sie stand auf und zog sich an, leise, bloß keinen Lärm machen. Lilly wartete.
Im Korridor hörte sie das Kreischen ihrer Mutter: „Pornographisch ... bis ins Mark vergiftet... anstößig... verlotterte Bande... bringe ich in die Erziehungsanstalt … “
Dazwischen konnte sie laute Proteste von Männerstimmen ausmachen: „ Wie? Wat hab’n Se eben jesacht?“
„ Ich hole die Polizei. Raus! Rauuuus ….!“ Das hallte im Treppenhaus. Offensichtlich schrie sie jetzt im Treppenhaus die Nachbarn zusammen. Sie wollte Zeugen haben.
„ Das verbitte ich mir aber. Was erlauben Sie sich für einen Ton ?“ War das Norbert?
„ Skandal is das …“
„ Sie … kommen Sie mir bloß nicht mit Skandal!“
„ Sie können mir mal!“
„ Das is ja jrossartig! Ich soll Sie? Sie können mir!“
„ Wenn Sie nicht sofort …“
Lilly hörte einen Knall. Was war passiert? Draußen wurde es hell. Offensichtlich wurden jetzt die Jungen nach draußen befördert. Sie hörte Poltern und einen undefinierbaren Lärm. Etwas flog gegen ihre Tür, Porzellan klirrte, Schritte jagten vorbei. Dazwischen hörte sie Proteste: „ Unglaublich!“
Irgendjemand drohte: „Komm’Se, komm’Se doch!“
„ Wat’n! Wat’n …“
„ Vaflucht!“
Jemand trampelten über den Korridor: „Sie … Sie …“
Im Treppenhaus schrie ein Mann: „Herrjott, wat sind Sie for ene!“
Die Wohnungstür wurde zugeschlagen. Einen Augenblick lang war es stille, dann legte Lieselotte Schwitters gegen Rita los:
„ Flittchen. So was will ich nicht im Hause haben...raus, habe ich gesagt, raus …“. Schon wieder krachte etwas. Lilly hielt den Atem an. Wurde ihre Mutter jetzt gegen Rita und Susanne handgreiflich? Dann war auch sie in höchster Gefahr. Vorsichtig packte sie ein paar Kleidungsstücke und ihre Bücher in einen alten Pappkoffer.
„ Wenn Rita rausgeschmissen wird, gehe ich auch“ , sagte Susanne. Normalerweise war Susanne zu schüchtern, um zu sprechen, aber wenn Rita angriffen wurde, dann verlor sie ihre Hemmungen. Mit Rita war sie zusammen durch die Hölle gegangen. Rita war alles, was sie noch hatte.
„ Rauuuus ...“
Von Irene war kein Piep zu hören. Lillys Zimmertür war noch immer verschlossen. Lilly wagte kaum, sich zu bewegen. Sie wollte nicht die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ihre Person lenken. Aber ihr Schweigen half ihr auch diesmal nichts. Susanne und Rita nahmen ihre wichtigsten Sachen und verließen das Haus. Frau Schwitters kontrollierte jeden Gegenstand, den sie einpackten. Dann erinnerte sie sich an Lilly: „ Wo ist Lilly? Wo ist diese Hure? Auch noch immer draußen auf dem Strich ?“
Frau Schwitters rüttelte an Lillys Zimmertür: „ Aufmachen! Wird’s bald! Ich schlage die Tür ein. Ich hole die Polizei. Ich schlage dich in Stücke, wenn ich dich erwische .“
Lilly schmiss den Pappkoffer mit den Büchern und Kleidern aus dem Fenster, dann stieg sie hinterher. Ihre Sachen konnte sie am Bahnhof Zoo einschließen. Vielleicht konnte sie bei einer Freundin unterkommen. Das Leben ging weiter, auch ohne Familie.
Der Flüchtling
Es war Samstag, der 13. April 1960. Alfred Weichelt ging von Tür zu Tür. Irgendwo musste sich eine Unterkunft für ihn finden, gleichgültig was und wenn es nur eine Schlafstelle war. Vorläufig war er im Flüchtlingsauffanglager in Marienfelde. Das war für ihn die Hölle: Als eingefleischter Junggeselle war er nicht gewohnt, Kinderlärm um sich herum zu haben. Jetzt war er diesem hektischen Betrieb ausgesetzt. Die Völker strömten herbei, jeden Tag. Das war das Resultat der Zwangskollektivierung des Bauernstandes in der Ostzone.
„ Begreifen Sie doch: Ich bin kein Bauer. Mich mit Hunderten von Bauern einzupferchen, bringt mich in die Klapsmühle .“
„ Berlin ist überlaufen. Wir werden Sie nach Westdeutschland rüber fliegen.“
Weichelt wollte aber nicht nach Westdeutschland fliegen. Er wollte überhaupt nicht fliegen. Er wollte ein kleines Zimmer haben, irgendwo in Berlin, mehr verlangte er nicht. Er telefonierte von Zeitungsannonce zu Zeitungsannonce. Er ging von einer Empfehlung zur anderen, bis er in der Reichenberger Straße ankam. Hier klingelte er zuerst bei Frau Elster. Frau Elster war sehr zurückhaltend: „Bei mir kommt kein Mann in die Wohnung. Ich war einmal verheiratet, das reicht.“
Mitleid hatte sie trotzdem: „ Aber eine Tasse Kaffee und eine Stulle können Sie bekommen... Also, Flüchtling sind Sie? Warum sind Sie geflohen ?“
„ Zwangskollektivierung.“
„ Sie doch kein Bauer nicht.“
„ Alle reißen sich den Mund wund über die Zwangskollektivierung des Bauernstandes, aber an den kleinen Mann mit Privatbetrieb denkt keiner. Ich hatte eine kleine Druckerei, Reklame, Laufzettel, Krimskrams, Traueranzeigen, Gratulationen, was sich gerade bot, nicht viel, Einmannbetrieb, aber ich war mein eigener Herr. Jetzt sollte ich in einem staatseigenen Betrieb jeden Quatsch der Partei drucken. Das war alles zensurierter Blödsinn, Propaganda, Blablabla, politische Schulung, Gehirnwäsche... Nee, wissen Sie, ich bin zu alt für so was.“
Weichelt war deprimiert: „ Die Ostzone erklärt die Zwangskollektivierung als eine Welle der freien Einsicht der Bauern und des Mittelstandes. Die Zwangskollektivierung ist aber nichts anderes als Terror gegen die Bevölkerung .“
Frau Elster schmolz das Herz. Sie konnte diesen armen Menschen nicht einfach wegschicken: „ Versuchen Sie einmal nebenan bei Schwitters ihr Glück. Ich will nicht klatschen, aber da war letzte Woche ein Krawall. Die Alte hat die jungen Mädchen rausgeschmissen. Da sind bestimmt ein paar Zimmer leer.“
Die Leiche
Zwei alte Damen kamen am Sonntagmorgen, dem 4. Mai 1960, zur Polizeiwache. Sie wollten eine Aussage machen. Der diensthabende Beamte notierte. Die Damen berichteten: Als wir, das heißt, meine Schwester und ich, aus der Kirche kamen, lag eine Leiche vor unserer Haustür.“
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