Nach einem Jahr, als Lilly das Schreibmaschinen- und Stenografie Examen bestanden hatte, bekam sie eine Anstellung als Schreibkraft in einem Büro. Jetzt verdiente sie regelmäßig und gut. Auch davon sprach sie mit niemanden. Ihre Mutter hätte dann noch mehr Geld von ihr verlangt und noch mehr an ihr herum gestänkert. Wie, wo und wann sie arbeitete, war ihre Angelegenheit. Das ging niemanden etwas an.
Damals gab es noch eine achtundvierzig Stunden Woche in Deutschland. Auch samstags wurde gearbeitet. Aber jeden Tag von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags im Büro zu sitzen, genügte Lilly nicht. Abends besuchte sie weiterhin Mathematik- und Sprachkurse. Ihre Kolleginnen glauben, sie wollte Kariere machen. Sie wollte zur Privatsekretärin avancieren oder sich für die Korrespondenz in der Auslandsabteilung bewerben. Lilly war jung. Die ganze Welt stand ihr offen.
Lilly äußerte sich nicht dazu. Wenn ihr jemand einen besseren Job angeboten hätte, hätte sie nie nein gesagt. Aber des Lebens letzter Zweck war dies nicht für sie. Lilly lernte, um des Lernens willen. Sie las alles, was sie auftreiben, erstehen oder ausleihen konnte. Im Lernen und Lesen öffneten sich für Lilly ganz andere Welten. Lilly lebte mit und in ihren Büchern. Hier verwischten sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum, Phantasie, Utopie und Wunschbilder. Es öffneten sich immer neue Möglichkeiten. Jetzt hatte sie ein privates Gymnasium gefunden, wo sie ihr Abitur nachmachen konnte. Allerdings musste sie hier tagsüber zur Schule gehen. Darum hatte sie im Büro gekündigt und suchte einen Job, wo sie abends oder nachts arbeiten konnte.
Auch in dieser Nacht in der Reichenberger Straße war Lilly in einem Buch versunken. Dann kam diese lärmende Kompanie und machte jegliche Konzentration unmöglich. Die Kakophonie von Stimmen, Lachen, Singen und Schreien schlug wie eine Sintflut über ihr zusammen. Politik, Klatsch und Banalität wurden wie Kraut und Rüben durcheinander geschmissen. Wer sagte was? Worum ging es? Lilly konnte nicht folgen.
„ Erzähle mal, wie war das mit diesem Skandal?“
„ Skandal? Dem wollt ich mal eins auswischen, wollt ich. Und da hab ich jesacht, ‚Wat hab’n Se eben jesacht?‘, und da hat er jesacht: ‚Kommen Se mir nich mit so wat.‘“
„ Unmöglich!“
„ Sach ich doch, sach ich doch.“
Alle redeten gleichzeitig, keiner hörte zu. Jeder hatte eine Meinung, die niemanden interessierte.
„ Das Volk weiß nicht, was es will und die Abgeordneten sind zu faul, zu müde und zu beschäftigt.“
„ Man sollte diese aufgeblähten Beamtenkörper abschaffen.“
„ In Bonn produzieren diese Typen tausend Narrheiten und Albernheiten. Hier fischt jeder im Trüben.“
„ Meinst’e?“
„ Deutschland müsste amtlich organisiert werden und nicht von wildgewordenen Spießbürgern, sach ich.“
„ Amtlich organisiert? Mit all die irrsinnigen Vorschriften? Glaubst’e das interessiert mich. Das interessiert mich überhaupt nicht.“
Susanne gähnte. Sie hatte Lust ins Bett zu gehen. Sie traute sich aber nicht, einfach aufzustehen und alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Rita war in der Küche, um ein paar Stullen zu schmieren. Die Herren hatten Schrippen und Aufschnitt mitgebracht. Das wurde ein richtiges Fest.
„ Nächstes Jahr? Tunis? An jeder Straßenecke ein Harem. Wa?“
„ Woher hasse das?“
„ Na hör mal, ich lese, klar, lesen muss man können.“
„ Harem? Hab ich richtig jehört? Sowat jehört bei uns unters Jugendschutzgesetz. Anstößige Wörter müssen vermieden werden.“
„ Man darf auch nicht ‚das leibliche und sinnliche Leben’ verherrlichen oder gar bordellartige Gespräche im Schoß der Familie führen.“ Das war Irene. Sie machte auf intellektuell wie immer. Rita kam mit den Brötchen. Irene holte Bier.
Familienleben! Dachte Lilly verächtlich, Familienleben war geheuchelte Ehrbarkeit, die öffentlich ausgestellt wurde, die aber niemals stimmte und die keiner glaubte. Familie war ein Markenartikel. Das war die Grundlage des deutschen Staates. Die Familie war ein Warenhaus von gängigen Werten wie triefende Würde, hölzerne Anständigkeit und ausgekochte Sauberkeit. Die Familie wurde sakral gehütet und nach kaufmännischen Prinzipien auskalkuliert und immer an die jeweilige politische Lage angepasst. So war es jetzt auch wieder in der Ostzone. Familie? Natürlich! Selbstverständlich! Aber die Kinder gehörten dem Staat. Die Kinder mussten der jeweiligen politischen Ideologie entsprechend ausgerichtet und dressiert werden und zwar von der Wiege bis zum Grab. Dafür sorgte die Partei. Familie? Was war das? Das war das, was der Staat diktiert und was in die politischen Landschaften hineinpasste.
Rita sprach auf Klaus und Robert ein: „Irenes Großvater starb vor zwei Jahren. Er hinterließ eine größere Summe Geld. Lilly und Irene erbten das Geld. Ihre Mutter wurde von ihrem Vater enterbt. Sie hatte eine höhere Ausbildung bekommen. Das wurde ihr Pflichtanteil genannt. Lilly und Irene sollten sich alleine durchwurschteln, darum sollten sie das Erbe bekommen.“
„ Meine Mutter führte einen langen Prozess”, mischte sich Irene hier ein, „ sie verlor eine Instanz nach der anderen. Lilly und ich, wir sind beide noch minderjährig. Meine Mutter hat das Erziehungsrecht. Sie beanspruchte die Kontrolle über das Geld, um unsere Erziehung sicherzustellen. Als sie sich abgesichert hatte, kaufte sie sich einen Mercedes. Seitdem fährt sie an jedem Wochenende nach Westdeutschland. Darum sind wir an jedem Wochenende alleine in der Wohnung.“
Jürgen, Norbert und Günther hingen neben und hinter Lilly am Klavier, pickten auf den Tasten herum und sangen, jeder nach einer eigenen Melodie, jeder mit einem anderen Text. Aus dem Fernseher tönte die Stimme des Nachrichtensprechers: „ Die Sowjetunion protestierte gegen die Übermittlung einer Medaille an einen Sowjetbürger durch die deutsche Botschaft. Arbeitskollegen von Iwan Goppe, wohnhaft in der Siedlung Kaliez im Rayon Solikamsk hätten ausgesagt, dass ein Postbote ein Paket von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau an besagten Iwan Goppe abgegeben hätte …“
„ Mit Politik tu ich mir nicht befassen, det jeht mir jar nischt an“, sagte Helmut. Helmut und Rainer verschwanden im Schlafzimmer von Schwitters. Sie durchwühlten den Kleiderschrank und kostümierten sich. Helmut zog das schöne Geblümte von Frau Schwitters an und Rainer den guten Gestreiften von Herrn Schwitters. Die Kleider hingen wie Säcke an ihnen herunter. Sie wurden mit Unterhosen und Strümpfen ausgestopft. Helmut fand den Lippenstift von Frau Schwitters.
„ Breeennend hei-hei-heißer Wüstensand “, grölte Jürgen und Norbert und hämmerten aufs Klavier. Helmut und Rainer tanzten eng umschlungen. Klaus und Robert waren mit Irene beschäftigt: „ Seid ihr alle vier Geschwister?“
„ Nein, Susanne und Rita sind Schwestern, und Lilly und ich, wir sind Halbschwestern, wir haben die gleiche Mutter, aber verschiedene Väter.“
„ Ja so jet dat, Männer kann’ste nehmen, brauchen und wegschmeißen.“
Martin hatte den Kasten mit den Sicherungen gefunden. Das war spannend. Er zog eine Sicherung raus, setze eine andere rein und wieder umgekehrt, hin und her. Das Radio klickte aus und an, der Fernseher wurde schwarz und explodierte in Blitzlichtern. Der Plattenspieler leierte, hackte und verstummte. Jürgen und Norbert hämmerten weiterhin auf dem Klavier herum. Sie schwebten in seliger Bierstimmung.
Rita wusste nicht genau, ob sie mit Robert oder mit Klaus anbändeln sollte. Irene war immer noch mit ihren eigenen Familienproblemen beschäftigt: „ Jedes Wochenende sind meine Eltern unterwegs. Wir können hier tun und lassen, was wir wollen. Aber meine Mutter nimmt uns alles Geld ab. Alle Essenswaren werden eingeschlossen.“
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