„ Ganz bestimmt eine Leiche“, echote ihre Schwester.
„Die war nackend, hatte überall blaue Flecken und war blutverschmiert.“
„ Können Sie mir eine nähere Beschreibung geben?“ fragte der Beamte.
„Das war ein Mann, also… hm…“ Die alte Dame errötete leicht. Ihr war das sichtlich unbehaglich, das detailliert beschreiben zu müssen. „ Der war nackend, ganz … also, wissen Se … da kann man doch nicht hingucken. … Is doch unanständig .“
„ Ja“ , konterte ihre Schwester.
„ Alter?“ , fragte der Polizeibeamte sachlich. Er war müde. Es war Sonntagmorgen und er hatte keine Lust, sich diesen Blödsinn von zwei senilen Frauen anzuhören.
„ Mechthild, was würdest du sagen? So zwischen dreißig und sechzig meine ich, so ungefähr. “
„ Ja, genau.“
„Haarfarbe?“
„ Tja, die Haare waren dünn, soweit ich sehen konnte. Was glaubst du, Mechthild, waren die dunkel oder waren die nicht dunkel ?“
„ So ungefähr, ja.“
„ Augenfarbe?“
„ Der hatte die Augen geschlossen. Wie soll ich das wissen.“
„ Größe?“
„ Welche Größe?“
„Die Körpergröße natürlich. Was glauben Sie denn ?“
Das ältliche Fräulein errötete zart.
„ Der liegt da, quer vor der Haustür. Er versperrte den ganzen Eingang. Wir konnten nicht in unser Haus kommen. Größe? Ja? Die Tür ist ein Meter fünfzig breit. Die Treppe ist zwei Meter breit. Also, zwischen ein Meter fünfzig und zwei Meter würde ich sagen. Was meinst du, Mechthild?“
„ Genau.“
„War der Mann dünn, dick, kräftig, schmächtig?“
„ Was soll man dazu sagen? Wie er da so lag … also … dick? Nee! Dünn war er auch nicht. Die Beine waren dünn wie dünne Streichhölzer. Der Bauch war schwabbelig. Aber sonst war nicht viel an ihm dran. Meinst du nicht auch, Mechthild?“
„ Du hast ganz Recht.“
„ Wie war Ihr Name?“
„ Wir wohnen im selben Haus, wo diese Leiche liegt, in der Reichenberger Straße in der dritten Etage, gleich die erste Tür links, wenn Sie die Treppe raufkommen.“
„Ihre Namen, bitte.“
„ Macher, Clara und Mechthild Macher.“
Der diensthabende Beamte wandte sich an einen Kollegen vom Außendienst:
„Kurt, würdest du die beiden Damen zur Reichenberger Straße fahren und die Fundstelle sicherstellen? Ich werde die Mordkommission benachrichtigen.“
Im Polizeipräsidium
Am Montag, dem 5. Mai 1960 herrschte der gewohnte Betrieb im Polizeipräsidium. Das lief von links nach rechts und von rechts nach links. Man trabte treppab und treppauf. Es wurde gearbeitet, telefoniert, diskutiert und konferiert. Tür auf und Tür zu. Man hatte Aktenmappen unterm Arm, Aktenmappen lagen auf dem Tisch, Aktenmappen kamen in die Schränke hinein und aus den Schränken heraus. Das elektronische Zeitalter war noch nicht in die Dienststuben eingezogen. Hier lag noch der Staub von tausenden von Akten.
Die Ereignisse vom Wochenende wurden registriert und besprochen. Zwei Vergewaltigungen, dreizehn Schlägereien und eine Leiche in der Reichenberger Straße. Am Montagmorgen um neun Uhr war eine Leiche aus dem Landwehrkanal gefischt worden.
„Könnte die Leiche im Landwehrkanal mit der Leiche in der Reichenberger Straße identisch sein?“
„ Man muss alle Möglichkeiten offen halten .“
„ Unmöglich. In der Reichenberger Straße soll ein dreißig bis sechzig Jahre alter Mann gelegen haben. Aus dem Landwehrkanal wurde ein Schuljunge von sechzehn Jahren herausgeholt. Seine Mitschüler sind draußen. Sie sprechen von unglücklicher Liebe, Einzelgänger, Opfer von Spott und schäbigen Späßen. Scheint mehr ein Disziplinarfall für die Schule zu sein. “
Kriminalkommissar Herbert Hegmann übernahm die Leiche in der Reichenberger Straße. Er diskutierte die Situation mit seinen Kollegen. Die Schwestern Macher hatten die Leiche zwischen elf und zwölf Uhr am Sonntagmorgen vor ihrer Haustür gesehen. Die Polizei hatte die beiden Damen gegen dreizehn Uhr in die Reichenberger Straße zurückgefahren. Als die Polizei zur Stelle kam, war die Leiche verschwunden. Man hat die „angebliche“ Fundstelle gründlich untersucht und Blutspuren gefunden. Die Blutbefunde waren zur technischen Untersuchung sichergestellt worden. Ein alter Schuh wurde neben der Treppe gefunden. Es war unsicher, woher der stammte. Ansonsten fehlte jeder weitere Befund. Eine Leiche wurde nicht gefunden. Die diensthabenden Polizeibeamten waren im Haus von Tür zu Tür gegangen. Der Aussage nach hatte niemand was gesehen. Die Glaubwürdigkeit einiger Personen wurde aber angezweifelt. Herbert wollte der Sache noch einmal nachgehen.
„ Man muss die Ergebnisse aus der Reichenberger Straße mit äußerster Vorsicht behandeln. “
„ Eine Meldung fürs Presseamt?“
„ Wird sich nicht vermeiden lassen. Die Leute klatschen so oder so.“
„ Wenn die Presse misstrauisch wird, kommt sie mit unbehaglichen Kommentaren. “
„ Ha, ha, ha Presse! Die Ostpresse ist nicht nur zensuriert, die Artikel werden eigenhändig vom Politbüro geschrieben .“
„ In einem Artikel der Iswestija wird der Bundeskanzler Adenauer beschuldigt, mit zwei Hakenkreuzen im Gästebuch der Nationalgalerie der Künste in Washington signiert zu haben .“
„ Alle Westdeutschen sind in der Ostpresse Aggressoren, Revanchehetzer und Faschisten, alle Ostdeutschen sind Friedenstauben, die sich im kommunistischen Taubenschlag der Sowjetunion in ihrer europäischen Koexistenz gefährdet fühlen.“
„ Der Osten will die Entspannung, sagt die Sowjetunion. Der Westen glaubt eh nicht daran, jedenfalls nicht, solange die Sowjetunion versucht, in aller Welt Hass und Feindseligkeit gegen die Bundesrepublik zu schüren.“
„ Das ist Wasser auf Franz Josef Strauß’ bajuwarische Mühlen. Er will seinen politischen Weizen nur noch mit atomarem Antrieb mahlen. Wenn die Bundesrepublik keine Atomwaffen bekommt, pfeife der Westen aus dem letzten Loch und Moskau lache sich ins Fäustchen, sagt Strauß.“
„Hört! Hört!“
„Klar doch, Pankow liebt solche Töne. Für die ist Franz Josef Strauß der leibhafte Beweis, dass die Bundesrepublik einen Bruderkrieg plant, einen Revanchekrieg. Die rechten Faschisten versuchen, die Sowjetunion mit Atomwaffen zu erpressen.“
„ Soll es einem da nicht ans Herz greifen, wenn man den gewaltigen Verteidiger der Friedenstauben, Nikita Chruschtschow in Baku in diplomatische Reden eingezwängt sieht?“
Der Kriminalbeamte las aus der Tageszeitung vor:
„Der Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland bedeutet zugleich die Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin und damit den Abzug der Besatzungstruppen aus Westberlin. Falls die Westmächte keinen Friedensvertrag mit der Bundesrepublik unterzeichnen wollten, würde das ihnen die Rechte nicht wahren, auf deren Wahrung sie bestehen. Sie würden dann natürlich des Rechtes auf Zutritt zu Westberlin verlustig gehen .“
„ Hast du noch mehr Kalauer auf Lager? Du könntest versuchen, auch mal zu arbeiten.“
In der Reichenberger Straße
Im Haus in der Reichenberger Straße, wo die beiden Schwestern Macher lebten, wohnten zumeist ältere oder alte Menschen und einige junge Ehepaare und jüngere Untermieter. Die jungen Leute waren fast alle spät in der Nacht vom Samstag zum Sonntag nach Hause gekommen. Eine Leiche hatten sie nicht vor der Haustür gesehen. Alle hatten am Sonntagmorgen lange geschlafen, alle, bis auf die beiden alten Damen, die jeden Sonntagmorgen in die Kirche gingen.
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