Heide Fritsche - Die Schandmauer

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Berlin war total zerstört. Es wurde von den Engländern Ruinen gelegt, von den Russen ausgeplündert und von aller Welt verraten und vergessen. Wir träumen immer nur von Berlins Glanz und Gloria. Aber Berlins Gloria liegt in seinen Toten. Jetzt senkt sich der Staub darüber. Die Handlung spielt in Berlin in den Jahren 1960 bis 1963. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Ereignisse am 13. August 1961 in Berlin. Diese Ereignisse sind mit den Schicksalen von vier Mädchen verbunden. Diese Mädchen sind Irene, Susanne, Lilly und Rita verbunden. Sie wurden in den Jahren von 1941 bis 1945 geboren wurden. Sie repräsentieren die Nachkriegsgeneration. «Die Schandmauer» ist die Geschichte Berlins und Deutschlands. «Die Schandmauer» ist aber auch die Geschichte dieser Kriegs- und Nachkriegsgeneration.

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Die Schandmauer

Berliner Geschichten

von

Fritsche

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Dieses E-Book wurde erstellt für Heide Marie Herstad (hma-hers@online.no)

am 11.12.2014 um 17:30 Uhr, IP: 80.212.67.4

Inhaltsverzeichnis

Titel Die Schandmauer Berliner Geschichten von Fritsche Dieses E-Book wurde erstellt für Heide Marie Herstad (hma-hers@online.no) am 11.12.2014 um 17:30 Uhr, IP: 80.212.67.4

Die fünfziger Jahre

Irene, Lilly, Susanne und Rita

Der Flüchtling

Die Leiche

Im Polizeipräsidium

In der Reichenberger Straße

Die Nachforschung

Die Piano-Bar

Lilly

Die Schlägerei in der Piano-Bar

Der Abort

Die Sünden der Väter

Das Polizeiprotokoll

Die Fahndung nach der verschwundenen Leiche

Das gestohlene Jackett

Die verlorene Brieftasche

S-Bahnhof Bülowstraße

Organisierte Fluchtrouten

Das Findelkind

Susanne

Der Pass

Deutsch-deutsche Probleme

Das Studium in der DDR

Eine Karriere in der DDR

Grenzgänger

Ewald Schwitters stirbt

Stacheldraht

Lilly am 13. August 1961

Woltersdorf

Am 13. August nachts in Ostberlin

Die Bar an der Potsdamer Straße

Am S-Bahnhof Savignyplatz

Irene am 13. August 1961

Susanne am 13. August 1961

Rita am 13. August 1961

Die Flucht von Familie Witte

Die Flucht von Alfred Weichelt

Die Flucht von Uschi

Die Verhaftung von Susanne und Joachim

Die Leichenträger

Panik am Brandenburger Tor

Die Beerdigung

Die verlorene Adresse

Der Ausweis

Am Alexander Platz

Die Verhaftung von Rechtsanwalt Pfitzner

Die Verlobung von Alfred Weichelt

Bautzen

Die Hochzeit von Alfred und Adele

Das Pulverfass Berlin

Der jüdische Friedhof in Essen

Russische Panzer am Ehrenmal

Flak-Helferin

Zurück nach Berlin

Epilog

Impressum

Die fünfziger Jahre

Anfang der sechziger Jahre war der Kalte Krieg auf dem kältesten Tiefpunkt angelangt. In Berlin war der Kalte Krieg noch kälter, er lag unterm Gefrierpunkt. Berlin unterlag dem Viermächteabkommen. Diese Viermächte waren die Russen, die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen. Laut Abkommen bestimmten ein Kontrollrat dieser vier Mächte, was man in Berlin tun durfte und was nicht. Aber so einfach war das nun auch nicht, denn die Russen glaubten, sie hätten prinzipiell mehr zu sagen als die Amerikaner, die Engländer und Franzosen zusammen. Die Amerikaner scherten sich einen Teufel darum, was die Russen meinten. Die Engländer richteten sich nach dem, was die Amerikaner ihnen sagten. Die Franzosen existierten nur, wenn man ihre Unterschrift für ein Memorandum brauchte.

Deutschland gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Dafür hatte man eine Ostzone und eine Westzone erfunden. Die Ostzone war die Sowjetzone. Sie wurde auch die Deutsche Demokratische Republik genannt. Was hier „Deutsch“ war, was „demokratisch“ genannt wurde und wie eine „Republik“ aussah, bestimmte Moskau. In dieser von den Russen okkupierten Zone war der Krieg noch lange nicht zu Ende, denn noch immer diktierten Lebensmittelknappheit, Materialknappheit, Stromausfall und Zensur den Alltag der Menschen. Statt Gestapo herrschte jetzt in der Ostzone der Staatssicherheitsdienst. Im Volksmund wurde er Stasi genannt.

Aus den okkupierten Gebieten der Amerikaner, Engländer und Franzosen entwickelte sich langsam eine Bundesrepublik. Das wurde der Westen genannt. Der Westen war Wirtschaftswunder, Neonreklame und Wohlstandsspeck. Der Osten war grau und verarmt und von den Russen total ausgeplündert.

Diese Koexistenz der stärksten Militärmächte der Welt, die auf den Raum einer Großstadt zusammen gepresst waren, musste notgedrungen zu Konfrontationen führen. Diese Konfrontationen wurden verbal ausgetragen. Darum nannte man diese Kriegsführung den „Kalten Krieg“. Im Kalten Krieg operierte man mit verbalen Kanonaden und Schlagwörtern. Ost wurde gegen West ausgespielt. Die Welt zerfiel in Nord und Süd und in Arm und Reich. Schuld daran war der Kommunismus, schrie die eine Seite. Schuld daran war der Kapitalismus, schrie die andere Seite. Propaganda, Desinformationen und Diplomatie wurden auf dem tiefsten intellektuellen Niveau geführt. Man griff den Gegnern mit diplomatischen Witzen und Kalauern an.

Ansonsten gehrte es überall auf der Welt. Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, da begannen schon unzählige neue Kriege. Erst wurde Korea rot. Das musste verhindert werden. Dann ließen sich die Vereinten Staaten auf das Vietnam-Abenteuer ein, weil auch hier der Virus des Kommunismus die Gehirne zerfraß. Lateinamerika, Kuba und China revoltierten und revolutionierten aus dem gleichen Grund. Afrika versank in Korruption und Terrorismus. Daran ist der Westen Schuld, sagte Russland. Daran ist die Sowjetunion Schuld, sagte der Westen. Je kälter der Krieg in Berlin wurde, umso heißer wurde er in der restlichen Welt geführt.

Neben dem Radio tauchte der Fernseher in der guten Stube auf. Krieg, Mord, Totschlag und alle Katastrophen der Welt wurden ein Teil des täglichen Lebens. Man goutierte das beim Mittagsessen und als Beruhigungspille vorm Schlafengehen. Alltag war das, was man jeden Tag vor der Nase hatte. Was man jeden Tag vor der Nase hatte, waren Lügen, dumme Witze, idiotische Anschuldigungen, Korruptionen und die Kriege der Großen. Das war die Normalität des Normalen. Das war die Beste aller Welten. Die Beste aller Welten wurde zum Supermarkt, wo jeder lernte, selektiv zu leben. Man fischte sich das aus dem Angebot heraus, was einem am besten schmeckte, was einem gerade in den Kram passte und was vom Geldbeutel akzeptiert wurde. So wurschtelte sich jeder durch.

Besonders die Berliner entwickelten einen eigenen Pragmatismus. Man lebte den Umständen entsprechend. Man nahm die Dinge wie sie kamen. Die Berliner hatten zwei Weltkriege erlebt. Sie waren Zeugen der Morde, Überfälle und Kämpfe der Weimarer Republik. Sie ließen zwölf Jahre Hitlerdiktatur über sich ergehen. Die totale Zerstörung von Berlin von dem englischen Flächenbomberdement wurde phlegmatisch hingenommen. Berlin wurde von den Russen zur Plünderung freigegeben. In der Geschichte der Neuzeit gibt es kein Beispiel über ein derartiges barbarisches und viehisches Verbrechen an einer Großstadt. Damit prahlen die Russen. Die Frauen wurden zu Tode vergewaltigt. Keine Frau bekam dafür den Friedens-Nobelpreis. Die gesamte männliche Bevölkerung Berlins wurde nach Sibirien verschleppt. Niemand spricht darüber.

Diese Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts haben in Berlin Spuren hinterlassen. Sie kreierten den speziellen Berliner Charakter. Man ließ die Großen die Großen sein. Hinter ihren großen Worten kam auch nur der kleine Schmutz zum Vorschein, wie sie Habgier und Größenwahn hervorbringen. Der kleine Mann auf den Straßen von Berlin war in seiner Gelassenheit immer noch grösser als alle großen Worte der Großen dieser Welt.

Irene, Lilly, Susanne und Rita

Es war Samstag, der 6. April 1960. In der Wohnung bei Schwitters in der Reichenberger Straße in Berlin waren vier Mädchen und zehn Jungen versammelt. Sie tranken, randalierten, sangen, diskutierten, lärmten und aßen, alles durcheinander und ohne Zusammenhang. Jeder sprach mit jedem. Alle sprachen gleichzeitig. Niemand hörte zu.

Scotsch-Whisky! Ich nem Scotsch-Whisky. Wie habt ihr nich? Wieso habt ihr nich? Gibt’s doch gar nicht. Na hör mal.“

„Scotsch-Whisky? Nix für mich. Mir hat der Arzt alles verboten. Ich darf keine Wurst essen, keine Butter und keinen Zucker. Ich darf keinen Wein trinken. Aber Wodka, davon hat er nicht gesprochen. Wie? Ihr habt auch keinen Wodka? Ist doch die Höhe!“

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