„Finella?“
„Ja?“
„Papa ist am Telefon. Möchtest du ihn sprechen?“
„Was für eine Frage!“ rief Finella, sprang auf, riss die Zimmertüre auf und ihrer Mutter das kabellose Telefon aus der Hand.
Leise zog ihre Mutter die Zimmertür von außen zu. Finella saß bereits im Schneidersitz auf dem Teppich, in der Mitte ihres Zimmers.
„Hallo Papa.“
„Hallo, meine kleine Springmaus. Wie viele Hecken hast du heute geentert?“
„Keine einzige. Und ich habe sogar geübt. Für die Englischarbeit morgen.“
„Ah, du hast dich also doch noch vorbereitet.“
„Ja.“
„Kluges Mädchen. Hattest du noch Ärger in der Schule?“
„Heute nicht.“
„Na, das ist doch mal was.“
„Ja.“
„Wie geht es dir?“
„Gut. Aber ich vermisse dich. Mama vermisst dich auch.“
„Autsch.“
„Wieso ‚autsch‘, Papa?“
„Du streust Salz in meine Wunden.“
„Wenn's doch wahr ist.“
„Eben drum. Ich vermisse euch auch. Sehr sogar.“
„Wann bist du denn wieder da?“
„Am Donnerstag. Und dann überraschen wir Mama.“
„Au ja! Aber nur, wenn es eine schöne Überraschung ist! Womit denn?“
„Aber nicht verraten, meine kleine Springmaus.“
„Nein.“
„Wir fahren über's Wochenende weg. Donnerstag bin ich wieder da. Und Freitag, nach der Schule, fahren wir los. Ich habe schon mit Mamas Chef telefoniert. Sie weiß zwar noch nichts davon, aber sie hat Freitag frei. Ich freue mich richtig auf euch. Ich vermisse euch so. Freitag Morgen, während du in der Schule bist, werde ich in aller Ruhe mit Mama frühstücken. Anschließend helfe ich ihr, unsere Taschen zu packen. Danach holen wir dich von der Schule ab und dann geht es los. Was sagst du?“
Finella schluckte. Was sie da gerade zu hören bekommen hatte, machte, dass sie kurz ein wenig schlucken musste. Ein glückliches Schlucken.
„Ich glaube, Mama freut sich“, flüsterte Finella vorsichtig in den Hörer.
„Das glaube ich auch.“
„Du, Papa.“
„Ja?“
„Ich glaube, Mama würde sich aber viel mehr freuen, wenn du mehr bei uns wärest.“
„Ja, das kann ich nachvollziehen. Geht mir ebenso.“
„Mir auch.“
Finella machte eine kurze Pause.
„Papa? Sprichst du mit deinem Chef?“
„Worauf du dich verlassen kannst.“
Wieder legte Finella eine kleine Pause ein. Sie hörte Papas Stimme tief in sich nachhallen und fühlte, dass er die Wahrheit sagte.
„Soll ich dir noch etwas aus meinen Büchern vorlesen?“ fragte sie anschließend sehr engagiert.
„Nein. Du sollst jetzt mal so langsam ins Bett gehen. Immerhin schreibst du morgen eine Klassenarbeit. Da musst du ausgeschlafen sein. Also: Gute Nacht, meine kleine Springmaus. Schlaf gut.“
„Du auch, Papa. Gute Nacht.“
*
Dienstag. Die Klassenarbeit kam und ging.
Tom, Murat und Steffi verhielten sich derart zurückhaltend, dass es regelrecht auffiel. Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Versetzung gefährdet? Schulverweis? Handyentzug? PC demontiert? Was auch immer, es hatte jedenfalls gewirkt.
Nach Schulschluss spazierte Finella noch ein wenig durch die Siedlung. Wem hätte sie auch von der Englischarbeit erzählen sollen? Mama verrichtete ihre Arbeit im Supermarkt und Papa hatte Außendienst.
Und der Wurbelschnurps? „Dienstag Abend bin ich wieder da“, hatte er gesagt. Finella musste gar nicht erst in den Himmel oder auf ihre Armbanduhr schauen. Sie wusste, dass es erst Nachmittag war. Immerhin fast schon später Nachmittag, aber definitiv noch kein Abend.
Sie stromerte weiter, bis sie schließlich vor der Kleingartenanlage „Zur friedlichen Taube“ stand. Opa Hauke harkte das Gemüsebeet in seinem Schrebergarten und pflanzte Setzlinge.
„Guten Tag, Herr Hauke.“
„Hm? Oh, Frau…“
„Finella“, sagte Finella.
„Ah ja, richtig. Frau von und zu Finella. Nein, aber ich muss ja Fräulein sagen. Denn verheiratet sind Sie ja noch nicht, junge Dame.“
Finella grinste. Opa Hauke lächelte.
„Haben Sie wieder Ärger in der Schule, Fräulein Finella?“
„Jedenfalls keinen, weswegen ich springen müsste.“
„Sehr gut. Das Beet ist nämlich noch nicht wieder so in Schuss, um hineinzuspringen. Und ehrlich gesagt, sehe ich die Setzlinge lieber wachsen.“
„Ich auch.“
Schweigen.
“Opa Hauke, hast du noch einen Kakao für mich?“
„Noch einen Kakao? Hm, wollen mal sehen. Ja, ich glaube schon. Ich gehe mal eben rein.“
„Ich kann doch mitkommen?“
„Ja, weiß denn deine Mutter, dass du hier bist?“
„Nö.“
„Dann bleibst du mal schön hier draußen. Deine Mutter hat sich letztes Mal so aufgeregt. Unter anderem darüber, dass du in meiner Gartenlaube gesessen hast.“
„Tja…“
„Und Recht hat sie! Ich hätte hier draußen mit dir warten sollen. Nein, du kommst nicht mit hinein. Ich habe keine Lust, mir nachsagen zu lassen, ich sei ein Sittenverbrecher.“
„O.k.“
Opa Hauke verschwand in seiner Laube.
Finella schaute über die Hecke in seinen Schrebergarten. Einige Setzlinge hatte er bereits eingepflanzt. Ein Großteil der Setzlinge lag allerdings noch in einem Weidenkorb, welcher neben dem Beet stand.
Dieses Mal nahm Finella die Gartenpforte.
Sie stellte ihren Rucksack ab, kniete sich auf die Erde und begann mit ihren Händen kleine Löcher in das Beet zu graben. Behutsam nahm sie Setzling um Setzling aus dem Korb heraus und gab jedem einzelnen einen Platz im Beet.
Vorsichtig bedeckte sie die Wurzeln der Setzlinge mit Erde. Nun war der Weidenkorb leer. Finella nahm ihn, drehte ihn in ihren Händen hin und her und schnupperte daran. Er roch nach Ästen, Zweigen und trockener Luft. Ganz anders als eine Plastikwanne. Schöner, so befand Finella. Sie mochte den Geruch dieses Weidenkorbes.
Opa Hauke trat aus seiner Gartenlaube.
„Nanu?“ staunte er, während er ihr den Kakao anreichte. „Waren hier Heinzelmännchen am Werke?“
„Nein“, antwortete Finella wahrheitsgemäß und griff nach der Tasse. „Das war ich.“
„Ja, das glaube ich wohl auch.“
Wilhelm Hauke betrachtete die frisch eingepflanzten Setzlinge.
Sehr ordentlich, doch, ja, sehr ordentlich. Vielleicht hier und da noch etwas Erde anklopfen.
Finella nippte an ihrem Kakao. Heiß.
„Ist ganz gut gelaufen“, pustete sie in ihre Tasse hinein.
„Was ist gut gelaufen?“ fragte Opa Hauke wie erhofft nach.
„Wir haben heute nämlich eine Englischarbeit geschrieben“, informierte Finella ihn. Sie blies in die kleinen Dampfwölkchen über ihrer Tasse.
„Oha. Englisch“, sagte Opa Hauke und stützte sich auf seiner Harke ab. „Fällt die englische Sprache dir schwer?“
„Nö. Dir?“
„Nein. Ich bin nur ein wenig aus der Übung.“
Finella trank ihren Kakao. Einträchtig schweigend standen Finella und Opa Hauke im Schrebergarten. Mal mit Blick auf die Setzlinge, mal mit Blick auf die Hecke, mal mit Blick auf die Gartenlaube. Hin und wieder sahen sie sich auch gegenseitig an.
Bald war der Kakao ausgetrunken.
„Danke“, sagte Finella und drückte ihm die Tasse in die Hand. „Tüss, Opa Hauke.“
„Tüss, gnädige Frau. Beehren Sie mich wieder.“
*
Während des Abendbrotes gab es natürlich nur ein Thema: die Klassenarbeit. Auch nach dem Abendbrot, als sie mit Papa telefonierten, berichtete Finella ausführlich davon. Ihren Besuch bei Opa Hauke erwähnte sie eher beiläufig. Ihren Eltern entging es jedoch nicht.
Finella entzog sich ihren Nachfragen und verkrümelte sich in das Badezimmer. Auf der Toilette ließ sie sich ganz viel Zeit. Gut, dass sie für alle Fälle ein paar Comichefte im Badezimmerschrank deponiert hatte. Diese Vorsorge machte sich nun bezahlt.
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