Nadja Hummes - Blümchenkaffee

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In dem Roman «Blümchenkaffee» (einer Fortsetzung von «Suomion kaunis») sieht Lenja sich mit neuen und existenziellen Problemen konfrontiert. Bedingt durch Entwicklungen, die selbst bis in das entlegene Ödenpofen hineinreichen und deren Folgen vielschichtiger sind, als man zunächst meinen könnte. Doch in dieser schwierigen Zeit beginnen Zuversicht spendende Lichter aus ungeahnten Winkeln des Lebens zu leuchten. Hin und wieder dauert es allerdings eine Weile, bis man sie sehen kann.

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Nadja Hummes

© 2021 Nadja Hummes – Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild und Umschlaggestaltung:

• © 2021 Nadja Hummes.

Textsatz: Nadja Hummes, Ralf Gawlista.

Schriftsatz und Datenkonvertierung:

• Ralf Gawlista (gawl@gawl.de).

2. Auflage, April 2021.

Druck und Verlag:

• epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie.

Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

April

Weit draußen in den Feldern, als ich nicht mehr von Menschen umgeben bin, kann ich endlich den Nasen-Mundschutz herunter nehmen. Welch eine Erlösung. Frei atmen zu können, ehemals eine Selbstverständlichkeit, kommt mir jetzt fast wie ein Wunder vor. Etwas, das durch nichts zu ersetzen ist. Ich kann gar nicht genug davon kriegen und dehne meinen Spaziergang durch die Natur auf wohltuende drei Stunden aus.

Kein Mensch begegnet mir. Lediglich vier Rehe kreuzen meinen Weg. Sie bleiben für einen Augenblick stehen und schauen mich aus einiger Entfernung verwundert an, ehe sie querfeldein springen.

Fasane stieben auf. Drei Hähne. Neun Hennen.

Holla.

Feldhasen mümmeln gemeinsam mit Kaninchen friedlich von derselben Wiese. Wilde Brombeeren hängen reif in ihren Sträuchern. Unweit davon entfernt bedecken wilde Erdbeeren den Boden. Beide Obstsorten sind von einem undurchdringlichen Gewirr aus Brennnesseln, Dornengestrüpp und Strauchwerk umgeben, doch für manch ein Tier sind die Früchte gut zu erreichen.

Ein Specht sitzt unüberhörbar irgendwo in den Bäumen.

Etliche Frösche quaken balzend um die Wette.

Mücken tanzen. Es ist schwül. Drückend. Die Sonne scheint. Seit Tagen hat es nicht geregnet. April. Viel zu warm für diesen Monat.

Ein Lied kommt mir in den Sinn. Irre ich mich oder stammt es von einem Herrn Hensel? Hensel, das klingt lustig. Spricht man den Namen aus, hört er sich fast wie der Hänsel aus dem Märchen an. Aber auch nur fast. Zumindest, wenn man genau hinhört. Zwei Namen, zwei Klänge. Ersterer wird mit einem e geschrieben, der zweite mit einem ä. Ein einziger Buchstabe kann einen enormen Unterschied in Phonetik und Bedeutung ausmachen. Man sagt ja auch nicht frohgämut anstatt frohgemut. Oder Wähmut anstatt Wehmut. Obwohl, – ein Weinen ertönt in meinen Gedanken: Wäh… Wäh… Wäh! Wehmut ist eine Facette des Schmerzes. Dementsprechend könnte beides passen? Nein. Könnte es definitiv nicht. Wehmut ist ein leiser Schmerz. Manchmal stechend. Sehnsuchtsvoll. Vielleicht auch vermissend. Wähmut, sofern es dieses Wort denn gäbe, beschriebe einen lauten, greinenden und quengelnden Schmerz.

Ich bringe besser niemanden auf solche Gedanken. Die Rechtschreibung der Deutschen Sprache ist dank etlicher Reformen eh schon bekloppt genug. Da muss nicht noch mehr Elend hinein.

Nahe dem Feldweg liegen drei umgestürzte Bäume. Von Moos bewachsen und Wildranken umgeben.

„Hen-sel. Hen-sel“, spreche ich im Takt, während ich von Baumstamm zu Baumstamm balanciere.

„Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt, er setzt seine Felder und Wiesen instand. Er pflüget den Boden, er egget und sät und rührt seine Hände frühmorgens bis spät“, singe ich zaghaft vor mich hin, – noch immer balancierend.

Mit einem Male halte ich inne. Die weiteren Strophen wollen mir partout nicht einfallen. Früge man einen der ortsansässigen Bauern, unter welchen klimatischen und ökologischen Bedingungen er heutzutage seine Felder bestellen muss, und ob denn der Monat März noch immer der Monat der Aussaat ist, – er würde einem schon das Passende darauf antworten. In Deutschland bleibt die schwere Landarbeit heutzutage vielen Rösslein, beziehungsweise Pferden, erspart. Sie müssen auch nicht mehr in den Bergbau. In die Stollen. In einigen anderen Ländern dieser Erde und in manchen Glaubensgemeinschaften hingegen unterstützen noch heute viele Tiere die Menschen bei deren Arbeit. Jetzt kommen mir die beiden fehlenden Strophen des Liedes doch wieder in den Sinn.

„Die Bäurin, die Mägde, sie dürfen nicht ruhn, sie haben im Haus und im Garten zu tun, sie graben und rechen und singen ein Lied und freun sich, wenn alles schön grünet und blüht. So geht unter Arbeit das Frühjahr vorbei, dann erntet der Bauer das duftende Heu, er mäht das Getreide, dann drischt er es aus, im Winter, da gibt es manch fröhlichen Schmaus“, trällere ich nun lautstark in die Landschaft.

Eine Kohlmeise sitzt auf einem Maulwurfhügel. Irritiert blickt sie herüber. Ich springe vom Baustamm herunter. Sie erschrickt nicht, fliegt nicht weg. Sie beobachtet einfach, was ich da mache. Verweilen, – genau das könnte ich jetzt mal machen. Ja, das ist eine gute Idee. Ich nehme auf einem der Baustämme Platz.

„Na, wann beginnst denn du, Ausschau nach einem Partner zu halten? Wann blühen die Brombeeren? Und die Erdbeeren? Warum sind sie schon jetzt vollkommen reif? Und was ist mit den Fröschen? Sind diejenigen, die gerade balzen, noch der erste Schwung oder schon der zweite oder dritte? Na? Verrate es mir“, rufe ich ihr zu.

Die Kohlmeise schweigt sich aus. Ihr Blick fixiert meine Hosentaschen.

„Da ist nichts drin, was ich dir anbieten könnte.“

Die Kohlmeise guckt mich prüfend an, – ohne jedoch den Maulwurfshügel zu verlassen. Eine Blaumeise landet neben ihr im Gras. Ich freue mich um so mehr, da Blaumeisen dieser Tage selten geworden sind. In einiger Entfernung landen Dohlen und Krähen.

„Ich muss euch enttäuschen. Ich habe wirklich nichts dabei. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, daran zu denken. Ich verspüre selber einen kleinen Hunger. Und großen Durst. Aber durch diesen doofen Mundschutz auf meinem Gesicht fällt mir vieles schwerer, wisst ihr. Da geht es dann einfach nur noch um’s Atmen. Sogar meine Wasserflasche habe ich vergessen. Und die habe ich sonst immer dabei.“

Blaumeise und Kohlmeise geben sich von meiner Ansprache unbeeindruckt. Dohlen und Krähen picken emsig in der Wiese herum.

Der Baumstamm sieht wirklich einladend aus.

Rücklings strecke ich mich aus und schließe für ein kleines Nickerchen meine Augen. Der Fußweg hierher war anstrengend. Über die gesamte Strecke musste ich die Atemmaske tragen. Der darauf folgende lange Spaziergang, das schwüle drückende Wetter… Die Summe aus alledem hat mich unglaublich ermüdet.

Nur ein paar Minuten.

Ein behutsames Ziepen und Klopfen nahe meiner Haarwurzeln lässt mich erwachen. Jetzt bloß keine ruckartigen Bewegungen. Nicht bevor ich weiß, wer da mit was beschäftigt ist. Vorsichtig überstrecke ich ganz langsam meinen Kopf. Hinter mir sitzt eine Krähe. Exakt dort, wo mein Kopf auf dem Baumstamm aufliegt. Sichtlich zufrieden verspeist sie eine Ameise. Die Krähe kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe keine Ahnung, weswegen. Sie merkt, dass ich sie anschaue, – lässt sich jedoch nicht davon stören. Eine weitere Ameise läuft den Baumstamm entlang, direkt auf meine Haarspitzen zu. Knapp bevor sie dort angelangt ist, schnappt die Krähe zu. Gulp, schon herunter geschluckt.

Langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe, richte ich mich auf. Bis ich letztlich sitze. Abwartend guckt die Krähe mich von der Seite an. Ich schaue mich um. Offensichtlich sind alle anderen vorhin anwesenden Vögel längst abgeschwirrt. Einzig diese Krähe bleibt beharrlich zugegen.

„Wie lange bist du schon hier, hm?“

Sie blickt mich wieder von der Seite an.

„Kennen wir uns?“

Die Krähe blinzelt, dreht ihren Kopf in die andere Richtung, verharrt wenige Sekunden regungslos, lässt sich eine weitere Ameise schmecken und schüttelt daraufhin behaglich ihr Gefieder. Das ist der Moment, in dem ich feststelle, dass mein Bauchgefühl stimmt: Jene Krähe und ich, wir kennen einander.

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