Seine Seele jubelte vor Glück, nicht weil er Frau von Rênal liebte, nein, weil die gräßliche Qual überstanden war. Um Frau Derville nichts merken zu lassen, glaubte er reden zu müssen. Seine Stimme klang nun wieder hell und kräftig, während Frau von Rênal kaum zu sprechen vermochte. Ihre Erregung war so unverkennbar, daß Frau Derville glaubte, ihre Freundin sei krank, und den Vorschlag machte, doch lieber ins Haus zu gehen.
Sofort fühlte Julian die Gefahr. „Wenn Frau von Rênal jetzt ins Haus geht“ – das war sein Gedanke –, „dann verfalle ich abermals in den qualvollen Zustand, der mich den ganzen Tag gepeinigt hat. Ihre Hand hat noch nicht lange genug in der meinen geruht. Ich habe noch keinen rechten Sieg errungen.“
Als Frau Derville ihren Vorschlag, hineinzugehen, wiederholte, drückte Julian ungestüm seiner Herrin Hand, die ihm widerstandslos zu eigen blieb.
Frau von Rênal war eben im Begriffe gewesen, sich zu erheben. Jetzt sank sie zurück und flüsterte kaum hörbar: „Ich fühle mich wirklich ein wenig krank, aber die frische Luft tut mir wohl.“
Diese Worte besiegelten Julians Glück. In diesem Augenblick war es unermeßlich. Er redete. Er vergaß zu heucheln. Und so erschien er den beiden Freundinnen, die ihm zuhörten, als ein Meister der Liebenswürdigkeit. Gleichwohl ermangelte es dieser Beredsamkeit, die ihn so plötzlich überkommen, ein wenig an Zuversicht. Er hatte ungeheuerliche Angst, Frau Derville könne wegen dem stärker gewordenen Winde, dem Vorboten des Gewitters, allein in den Salon gehen. Dann wäre er mit Frau von Rênal unter vier Augen geblieben. Den blinden Mut, der zu einer Tat gehört, den hatte er nur zufällig gefunden. Er hatte das Gefühl, daß es über seine Kraft gehen würde, auch nur ein paar leise Worte zu Frau von Rênal zu sagen. Wenn er sich im allgemeinen auch kaum etwas vorzuwerfen hatte, so sah er doch, daß er eine Niederlage erleiden und des eben Gewonnenen wieder verlustig gehen würde.
Zu seinem Glücke fand seine empfindsame und überschwengliche Plauderei an diesem Abend Gnade vor Frau Derville, die sich sonst häufig ob seiner Naivität und Unerfahrenheit recht langweilte. Frau von Rênal hingegen saß Hand in Hand mit Julian und dachte an nichts. Sie ließ alles geschehen. Dieser Abend unter der uralten Linde, die der Sage nach Karl der Kühne gepflanzt hatte, war ihr das reinste Glück. Wonnesam lauschte sie dem Winde, der durch das Blätterwerk des mächtigen Baumes rauschte, und dem Aufklatschen der Tropfen, die vereinzelt zu fallen begannen. Ein Umstand entging Julian, der ihm das Selbstbewußtsein gestärkt hätte. Frau von Rênal hatte ihm die Hand entziehen müssen. Sie war aufgestanden, um ihrer Base behilflich zu sein, einen vom Wind umgeworfenen Blumenkübel wieder aufzustellen. Kaum aber saß sie wieder, da legte sie ihre Hand von selber in die seine, als ob dies schon Gewohnheitssache unter ihnen wäre.
Es hatte längst Mitternacht geschlagen. Man mußte endlich den Garten verlassen, und die beiden trennten sich. Im Banne ihres Liebesglückes und in ihrer Unerfahrenheit dachte sie an keinen Selbstvorwurf. Vor Seligkeit vermochte sie nicht einzuschlummern. Julian hingegen fiel in einen bleischweren Schlaf, todmüde von den Kämpfen zwischen Zaghaftigkeit und Stolz, die den ganzen Tag über sein Herz erfüllt hatten.
Am andern Morgen weckte man ihn um fünf Uhr. Keiner seiner Gedanken galt Frau von Rênal. Welch grausame Erkenntnis wäre dies für sie gewesen!
Er hatte seine Pflicht erfüllt: eine Heldenpflicht.
In seinem Glücksgefühl schloß er sich in sein Zimmer ein und vertiefte sich mit gewandeltem Genuß in die Taten seines Herrn und Meisters.
Als es zum Frühstück läutete, hatte er über den Bulletins der Großen Armee alle seine eigenen Siege von gestern vergessen. Beim Hinuntergehen nach dem großen Zimmer im Erdgeschoß sagte er leichtfertig zu sich: „Ich muß der Frau sagen, daß ich sie liebe.“
Aber statt der liebesseligen Blicke, die er erwartet, sah er sich vor der gestrengen Miene des Bürgermeisters, der vor zwei Stunden aus Verrières angekommen war und durchaus kein Hehl aus seiner Unzufriedenheit darüber machte, daß Julian den ganzen Vormittag vertrödelt hatte, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Der sonst so gravitätische Herr von Rênal war der unangenehmste Mensch, wenn er schlechte Laune hatte und Gelegenheit fand, sie an jemandem auszulassen.
Jedes scharfe Wort ihres Mannes versetzte Frau von Rênal einen Stich ins Herz. Julian indes war in Ekstase. Die gewaltigen Begebnisse, die ihn in den beiden Stunden beschäftigt hatten, flammten noch vor seiner Phantasie. Es fiel ihm schwer, sich so weit herabzulassen, daß er die groben Vorwürfe des Herrn von Rênal aufnahm. Endlich gab er eine Antwort, schroff und jäh: „Mir war nicht wohl.“
Der Ton dieser Ausrede hätte auch einen weit weniger empfindlichen Menschen als den Bürgermeister geärgert. Es fehlte nicht viel, so hätte er ihn daraufhin ohne weiteres von dannen gejagt. Lediglich sein Grundsatz, sich in Geschäftssachen niemals zu übereilen, hielt ihn davon zurück. Im nächsten Augenblick sagte er sich bereits: „Dieser dumme Junge hat sich in meinem Hause ein gewisses Renommee begründet. Valenod nähme ihn gewiß. Oder er heiratet die Elise. In beiden Fällen lacht er mich insgeheim aus.“
Trotz dieser klugen Überlegung entlud sich seine Unzufriedenheit in einer Flut von Grobheiten über Julian, die diesen allmählich in Zorn brachten. Frau von Rênal war dem Weinen nahe. Kaum war das Frühstück zu Ende, da bat sie Julian, an ihrem Spaziergang teilzunehmen.
Unterwegs nahm sie freundschaftlich seinen Arm und plauderte zu ihm. Julian erwiderte nichts als einmal halblaut die Worte: „Ja, so sind sie, die reichen Leute!“
Dicht neben den beiden ging Herr von Rênal. Seine Gegenwart vermehrte Julians Ingrimm. Und mit einem Male ward er sich bewußt, daß sich Frau von Rênal mehr denn nötig auf ihn stützte. Diese Annäherung widerte ihn an. Er stieß sie brüsk von sich und machte seinen Arm frei.
Glücklicherweise entging Herrn von Rênal diese neue Unverschämtheit. Nur Frau Derville bemerkte den kleinen Vorfall. Ihrer Freundin kamen die Tränen in die Augen. In diesem Augenblick nahm der Bürgermeister ein paar Steine auf und verjagte damit ein Bauernmädchen, das auf einem verbotenen Weg dahinging, quer über einen Zipfel des Obstgartens. Rasch sagte Frau Derville: „Herr Julian, mäßigen Sie sich, bitte! Bedenken Sie, daß wir alle unsre Launen haben!“
Julian warf ihr einen eiskalten Blick zu. In seinen Augen gleißte die souveränste Verachtung.
Frau Derville stutzte. Sie wäre tief erschrocken, wenn sie die volle Bedeutung seines Blickes erfaßt, wenn sie die vage Hoffnung auf gräßliche Vergeltung daraus gelesen hätte. Solche Momente der Demütigung erzeugen die großen Revolutionäre.
„Euer Julian ist recht rabiat“, flüsterte Frau Derville ihrer Freundin zu. „Mir graut vor ihm.“
„Er hat auch Anlaß, aufgebracht zu sein“, gab Frau von Rênal zur Antwort. „Bei den erstaunlichen Fortschritten, die ihm die Kinder verdanken, kann er schon einmal einen Vormittag sich selber widmen. Die Männer sind wirklich rücksichtslos.“
Zum erstenmal in ihrem Leben empfand Frau von Rênal Rachsucht gegen ihren Mann. Julians wilder Haß gegen die Reichen war nahe daran auszubrechen. Zum Glück sah Herr von Rênal just den Gärtner, rief ihn her und machte sich zusammen mit ihm daran, den verbotenen Weg durch eine Dornenhecke zu sperren.
Julian erwiderte kein einziges Wort auf alle die Freundlichkeiten, die ihm die beiden Damen auf dem weiteren Spaziergang angedeihen ließen. Der Bürgermeister war kaum aus der Sehweite, als ihn beide, unter dem Verwände, müde zu sein, um seinen Arm baten.
So schritt Julian zwischen den beiden Frauen hin, die beide vor Erregung und Verlegenheit glühende Wangen bekommen hatten, während er totenblaß aussah, düster und verbissen. Ein eigentümlicher Gegensatz! Er verachtete diese Weiber und alle ihre Empfindsamkeit.
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