Wenn die Verrièrer Freunde als Tischgäste nach Vergy kamen, sagten sie zu ihr: „Gnädige Frau, Sie sehen jünger denn je aus!“ Allerdings war das eine stehende Redensart in jener Gegend.
So seltsam es klingen mag: Frau von Rênal hatte durchaus keine besonderen Absichten, wenn sie so viel Sorgfalt auf sich verwandte. Es machte ihr Vergnügen. Das bißchen Zeit, das ihr die Schmetterlingsjagd mit den Kindern übrigließ, arbeitete sie mit Elise an neuen Kleidern. Und das einzige Mal, wo sie nach Verrières fuhr, galt dem Kaufe eines Sommerkostüms, des Allerneuesten aus Mülhausen.
Bei dieser Gelegenheit brachte sie eine entfernte Verwandte von sich mit nach Vergy, Frau Derville, die gleichzeitig mit ihr im Kloster zum Herzen Jesu gewesen war. Nach ihrer Heirat hatte sie sich allmählich mit ihr befreundet.
Frau Derville hatte immer viel Spaß an den drolligen Einfallen ihrer Base.
„Wenn ich allein wäre, käme mir derlei gar nicht in den Sinn“, meinte Frau von Rênal. Vor ihrem Mann schämte sie sich nämlich ihrer unvermittelten Anwandlungen. Sie kamen ihr kindisch vor; in Paris hätte man das Bizarrerien genannt. Aber in Frau Dervilles Gegenwart wuchs ihr Mut. Je länger sie mit ihr allein war, um so mehr ging sie aus sich heraus und desto lebhafter wurde sie. Ein ganzer Vormittag verflog den beiden lustigen Freundinnen gewöhnlich, als wäre es nur ein Augenblick. Diesmal fand die kluge Frau Derville schon während der Fahrt von Verrières nach Vergy, daß ihre Freundin wohl nicht so fröhlich wie sonst, aber viel zufriedener sei.
Julian hingegen war seit Anbeginn des Landaufenthalts wieder ein Kind. Ebenso glücklich wie seine Zöglinge, jagte er mit ihnen hinter den Schmetterlingen her. Nach so viel Zwang, Berechnung und Politik den Blicken der Menschen entrückt, sich selbst überlassen, und instinktiv sicher, daß er von seiner Herrin nichts zu befürchten hatte, verlor er sich in der Freude am Dasein. Sie ist bei einem Neunzehnjährigen nicht gering, zumal in einer der köstlichsten Berglandschaften der Welt.
Bei Frau Dervilles Ankunft hatte Julian sofort das Gefühl, daß sie seine Freundin sei. Er zeigte ihr alsbald die Fernsicht, die man vom Ende des neuen Weges an den großen Nußbäumen hatte. Wahrhaftig, was man von dort sah, durfte sich mit den herrlichsten Landschaftsbildern in der Schweiz oder an den lombardischen Seen messen! Wer den steilen Hang hinaufklettert, der ein paar Schritte oberhalb der Allee anfängt, gelangt an einen Vorsprung über jähen Klüften. Die Tiefe bis fast hinab zum Fluß erfüllt ein Wald von Eichen. Auf diese Felsenhöhen führte Julian die beiden Freundinnen. Dort fühlte er sich glücklich und frei, als sei er der Herr des Bodens, der König des Landes. Die Schwärmerei der beiden Damen für die Großartigkeit des Ausblickes war sein Ergötzen.
„Das ist mir wie eine Melodie Mozarts!“ rief Frau Derville.
Das Land um Verrières war Julian verleidet, weil es ihn an die Feindseligkeit seiner Brüder und die Tyrannei seines mißlaunischen Vaters gemahnte. In Vergy verfolgten ihn keine bitteren Erinnerungen. Zum erstenmal in seinem Leben sah er keinen Feind. Wenn Herr von Rênal in der Stadt weilte, was öfters der Fall war, wagte er zu lesen. Bisher hatte er dies nur nachts getan, wobei er sein Licht vorsichtig in einem großen verkehrt hingestellten Blumentopf verbarg. Jetzt konnte er sich nachts dem Schlummer hingeben. Am Tage, in seinen freien Stunden, ging er mit seinem Lieblingsbuche hinauf in die Felsen. Er vertiefte sich in das Vorbild seiner Lebensführung und schöpfte neue Begeisterung. Nach Stunden der Mutlosigkeit fand er hier Trost im erhabensten Traumglück.
Gewisse Aussprüche des großen Napoleon über die Frauen sowie über die Moderomane seiner Zeit brachten Julian zum erstenmal auf verliebte Gedanken, wie sie sich in jungen Männern zumeist viel früher regen.
Die heißen Tage kamen. Man verbrachte die Abende gewöhnlich unter einer mächtigen Linde dicht vor dem Herrenhause. Dort war es stockdunkel. Eines Abends redete Julian besonders lebhaft. Es war ihm Lust, so reden zu können: vor den jungen Frauen. Er gestikulierte, und einmal berührte er dabei Frau von Rênals Hand, die auf der Lehne eines der weißlackierten Gartenstühle ruhte.
Die Hand fuhr blitzschnell zurück; da durchfuhr Julian der Gedanke, es wäre seine Pflicht, daß sich diese Hand nicht zurückzöge, wenn er sie berührte. Der Gedanke, er habe eine Pflicht zu erfüllen, dazu das Gefühl, es sei lächerlich, mehr noch, eines höheren Menschen unwürdig, erfolglos zu verzichten – das ertötete im Moment alle Freuden seines Herzens.
Als Julian am nächsten Morgen Frau von Rênal wiedersah, schaute er sie seltsamen Blickes an. Er beobachtete sie wie einen Feind, mit dem man sich schlagen soll. Diese Blicke, die so ganz anders waren als die am vergangenen Abend, brachten Frau von Rênal beinah um den Verstand. Sie war gütig mit ihm gewesen, und er sah so bös aus! Sie mußte ihn immer von neuem anschauen.
Frau Dervilles Anwesenheit ermöglichte es ihm, wenig zu reden und sich desto mehr mit dem zu beschäftigen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Diesen ganzen Tag über las er und sog neue Kraft aus dem enthusiastischen Buche. Es erfüllte seine Seele.
Die Unterrichtsstunden der Kinder kürzte er beträchtlich ab, und als er dann wieder mit Frau von Rênal zusammentraf, gemahnte ihn diese Begegnung sofort daran, daß er Sieger sein müsse. Er faßte den Vorsatz, es am Abend so weit zu bringen, daß er ihre Hand in der seinen halten dürfe.
Als die Sonne sank und der entscheidende Augenblick heranrückte, begann Julians Herz seltsam zu schlagen. Die Nacht brach an, eine dunkle Nacht, wie er zu seiner Freude und unsäglichen Erleichterung wahrnahm. Ein schwüler schwerer Wind ging und trieb dunkle Wolken über den Himmel. Es lag ein Gewitter in der Luft.
Die beiden Freundinnen lustwandelten. Es war schon spät. Alles, was sie an diesem Abend taten, dünkte Julian sonderbar. Sie genossen diese Stunden, in denen zarten Seelen die Wollust der Liebe wächst.
Endlich nahm man Platz, Frau von Rênal neben Julian, Frau Derville ihr dicht zur andern Seite. Julian brachte kein Wort über die Lippen. Sein Vorhaben nahm in völlig in Anspruch. Die Unterhaltung zu dritt schlich matt dahin.
„Ob ich wohl ebenso zitterte, ob ich ebenso unglücklich wäre, wenn ich vor meinem ersten Duell stände?“ So fragte sich Julian. Allzu mißtrauisch gegen sich wie gegen andre, war er sich über seinen Seelenzustand nicht klar.
In seiner Todesangst hätte er jedwede Gefahr vorgezogen. Hundertmal empfand er den heißen Wunsch, daß irgendeine häusliche Pflicht Frau von Rênal veranlasse, aus dem Garten in das Haus zu gehen. Die Gewalt, die sich Julian antat, war so groß, daß seine Stimme tief verändert klang. Bald begann auch Frau von Rênals Stimme zu zittern. Aber das merkte Julian nicht. Der furchtbare Kampf zwischen Pflicht und Schüchternheit tobte derart in ihm, daß er für die Außenwelt gar keinen Sinn hatte.
Die Schloßuhr schlug dreiviertel zehn. Noch hatte Julian nicht das geringste gewagt. Empört über seine Feigheit gelobte er sich: „Im Augenblick, wo es zehn Uhr schlägt, führe ich das aus, was ich mir den ganzen Tag über befohlen habe zu tun – oder ich gehe in mein Zimmer und schieße mich tot.“
Die letzte Viertelstunde war voller Hangen und Bangen. Julians Erregung wuchs so mächtig, daß er fast von Sinnen war, als die Turmuhr hoch über ihnen die zehnte Stunde verkündete. Jeder einzelne Schlag dieser Schicksalsvollzieherin erschütterte sein Herz. Es war ihm, als ob ihn der Glockenschlägel körperlich berührte.
Als der letzte Schlag verhallte, erst da streckte Julian seine Hand aus und ergriff Frau von Rênals Hand. Sie zuckte zurück. Ohne zu wissen, was er tat, erfaßte er sie abermals. Trotz seiner gewaltigen Erregung staunte er über die eisige Kälte der Hand, die er umspannte und krampfhaft drückte. Es erfolgte ein letzter Versuch, sie ihm zu entziehen: dann verblieb ihm die Hand.
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