Marie-Henri Stendhal - Stendhal - Rot und Schwarz

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"Rot und Schwarz" enthält ein Sittengemälde Frankreichs im 19. Jahrhundert. Stendhal beschreibt schonungslos die engen gesellschaftlichen Zwänge und Erwartungshaltungen an alle, die ihr Leben durch Aufstieg verbessern möchten. Der Karrierist, der im Mittelpunkt von Stendhals Roman steht, ist von Ehrgeiz zerfressen und zu jeder Anpassungsleistung bereit. Gleichzeitig registriert er mit psychologischer Tiefgründigkeit, wie ihn das Leben der Unterordnung verändert.
Stendhal hat mit «Rot und Schwarz» ein psychologisches Meisterwerk geschaffen. Dieses E-Book enthält eine ungekürzte Ausgabe in werkgetreuer Übersetzung.

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Inhalt

Titelseite Stendhal Rot und Schwarz

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

Stendhal

Rot und Schwarz

1. Kapitel

Die kleine Stadt Verrières kann als eine der hübschesten der Freigrafschaft gelten. Ihre weißen Häuser mit Spitzdächern aus roten Ziegeln schmiegen sich dem Hang einer Höhe an, deren wellige Silhouette von den Wipfeln mächtiger Kastanien getragen wird. Ein paar hundert Schritte unterhalb der einstmals von den Spaniern erbauten, heute verfallenen Befestigungen fließt der Doubs.

Nach Norden ist Verrières geschützt durch einen hohen Bergrücken, einen Ausläufer des Juragebirges. Die zackigen Gipfel des Verra sind schon bei den ersten Oktoberfrösten mit Schnee bedeckt. Ein munterer Bach, dem Gebirge entsprungen, durchrauscht das Städtchen und ergießt sich in den Doubs. Sein Wasser treibt eine Menge Sägemühlen an. Diese einfache Industrie gewährt dem größeren Teil der eher städtischen als ländlichen Einwohnerschaft ein behagliches Auskommen. Indessen verdankt das Städtchen seinen Reichtum nicht den Sägemühlen, sondern der Herstellung von bunter sogenannter Mülhauser Leinwand. Infolge der allgemeinen Wohlhabenheit sind seit Napoleons Sturz fast alle Häuserfassaden von Verrières renoviert worden.

Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, sogar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster. Sie werden durch ein Rad gehoben, das der Gebirgsbach treibt. Jeder dieser Hämmer stellt täglich viele, viele tausend Nägel her. Frische hübsche Mädchen schieben den Ungetümen Eisenstreifen zu, die im Handumdrehen in Nägel verwandelt werden. So grob diese Arbeit auch ist, sie wird doch immer von den Fremden bestaunt, die zum ersten Mal in die Berge zwischen Frankreich und der Schweiz kommen. Fragt man, wem die schöne Nägelfabrik gehöre, die einen halb taub macht, wenn man die Hauptstraße entlanggeht, so erhält man in der breiten Mundart der Gegend die Antwort: „Na, dem Herrn Bürgermeister!“

Wer ihn sehen will, braucht nur auf der Hauptstraße, die vom Doubs zur Höhe führt, eine Weile aufzupassen. Man kann hundert zu eins wetten, dass bald ein großer stattlicher Mann mit gewichtiger Amtsmiene auftaucht, bei dessen Annäherung alle Leute sofort ihre Hüte ziehen.

Sein Haar ist ergraut. Und grau ist auch sein Anzug. Er ist Ritter mehrerer Orden. Er hat eine hohe Stirn, eine Adlernase und ein alles in allem nicht unübles Gesicht. Auf den ersten Blick findet man darin wohl die Würde des Stadtoberhauptes gepaart mit der geselligen Gewandtheit des angehenden Fünfzigers. Weltmännische Augen entdecken allerdings recht bald die unangenehmen Merkmale von Selbstzufriedenheit und Dünkel, zu denen sich geistige Beschränktheit und Phantasiearmut gesellen. Schließlich kommt man dahinter, dass die ganze Pfiffigkeit dieses Mannes darin besteht, sich prompt bezahlen zu lassen, was man ihm schuldet, seinen eigenen Pflichten dagegen möglichst spät nachzukommen.

So sieht also der Bürgermeister von Verrières aus: Herr von Rênal. Hat er die Straße majestätisch durchschritten, dann verschwindet er im Rathaus. Hundert Schritte weiter bergauf erblickt man ein recht stattliches Haus mit einem großartigen Garten hinter einem schmiedeeisernen Gitter. Darüber sieht man die Kammlinie der Burgunder Berge, wie zur Augenweide hingezaubert. Es ist ein Bild, vor dem der Wanderer den üblen Dunstkreis des kleinlichen Geldsinnes, der ihn eben umfangen wollte, wieder vergisst.

Man erfährt, dass dieses Haus dem Bürgermeister gehört. Die Erträgnisse seiner großen Nägelfabrik gestatten ihm diesen Prachtbau aus Hausteinen, der unlängst erst fertig geworden ist. Die Familie Rênal, angeblich alter spanischer Herkunft, war längst vor der Eroberung des Landes durch Ludwig XIV. hier ansässig.

Die Restauration von 1815 machte ihn zum Bürgermeister. Seitdem schämt sich Rênal, Fabrikant zu sein. Und doch wären die Mauern, die den herrlichen Garten in verschiedene Terrassen gliedern, bis hinab zum Doubs, ohne das kaufmännische Geschick ihres Besitzers nicht vorhanden.

Man findet in Frankreich bei weitem keine so malerischen Gärten wie im Umkreis von deutschen Handelsstädten wie Leipzig, Frankfurt, Nürnberg und andernorts. In der Freigrafschaft steigt man in der Achtung seiner Mitbürger, je mehr man Steine auf seinem Grundstück türmt. Der Garten des Herrn von Rênal war voll solcher Bauten, obendrein aber ein Gegenstand der Bewunderung, weil gewisse kleine Parzellen des Gartens bei ihrer Erwerbung buchstäblich mit Gold aufgewogen worden waren. So lag zum Beispiel die Sägemühle, die einem am Eingang von Verrières durch ihre Lage am Doubsufer und durch die am Dache angebrachte Firma mit dem Namen SOREL in Riesenlettern auffällt, noch vor sechs Jahren an der Stelle, wo man zurzeit die Mauer der vierten Rênalschen Gartenterrasse aufführt. Der Bürgermeister hat bei all seinem Hochmut manchen Gang zum alten Sorel machen müssen, einem dickköpfigen groben Bauern, und ihm reichliche Goldfüchse auf den Tisch gezählt, ehe er die Verlegung der Mühle erreichte. Dazu müsste er in Paris seinen ganzen Einfluss aufbieten, bis er die Genehmigung zur Ableitung des öffentlichen Baches bekam, der die Mühle trieb. Dieser Gnadenbeweis ward ihm nach den Wahlen von 182* zuteil.

Sorel erhielt fünfhundert Schritt abwärts am Doubs vier Morgen Land für einen. Und obgleich der neue Platz für seinen Bretterhandel weit günstiger war, so verstand es Vater Sorel – wie er jetzt in seiner Wohlhabenheit allgemein hieß – doch, seinem ungeduldigen und gebietshungrigen Nachbarn überdies sechstausend Franken abzuknöpfen. Dieses Abkommen wurde von den durchtriebenen Spießbürgern viel bekrittelt. Und einmal, an einem Sonntag (es ist jetzt vier Jahre her), da begegnete Herr von Rênal, als er im Bürgermeisterstaat aus der Kirche kam, dem alten Sorel samt seinen drei Söhnen und merkte von weitem, wie der Alte, seiner ansichtig, lächelte. Bei diesem Lächeln ging dem Bürgermeister eine Erleuchtung auf. Seitdem meint er, den Tausch hätte er billiger haben können.

2. Kapitel

Das Glück stand Herrn von Rênal auch in seiner Eigenschaft als Bürgermeister zur Seite. Die Stadtpromenade, die sich mehr als dreißig Meter hoch über dem Flussbett am Berghange hinzieht, bedurfte einer mächtigen Untermauer. Dank ihrer wunderbaren Lage ist sie einer der malerischsten Aussichtspunkte Frankreichs. Aber jedes Frühjahr überfluteten die Bergwässer den Weg, rissen tiefe Furchen auf und machten ihn ungangbar. Dieser allgemein beklagte Übelstand versetzte Herrn von Rênal in die angenehme Notwendigkeit, seine Amtszeit durch ein Mauerwerk von sechseinhalb Meter Höhe und sechzig bis siebzig Meter Länge zu verewigen.

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