Dakshinkali, Südliche Kali, der Tempel liegt zwischen Hügeln mit dünnem Baumwuchs am Ende eines engen Tales, am Ende der Straße nach Kathmandu. Nach dem Opfer setzen sich die Familien rings um den Tempel, auf den Hügeln, zusammen und braten das Fleisch des Opfertieres auf offnem Feuer: das kleine feiertägliche Fest, das gemeinsame Essen stellt die Verbindung her zwischen Himmel und Erde, bestimmte Teile stehen der Göttin zu, andere dem Menschen; eine gemeinsame Mahlzeit, die Göttin und die Gläubigen werden im selben Fleisch vereint, ein Akt der Kommunion zwischen dem Heiligen und dem Alltag -
und ich stelle mir vor, wie das Blut aus den Halsschlagadern spritzt, in die Blutrinne fließt, für die blutsaufende Göttin, Blut ist das größte Opfer, im Blut sitzt das Leben, das Blut, das aus einem Körper strömt, nimmt das Leben mit sich, es ist das Geheimnisvollste, das der Körper besitzt, dunkle Flüssigkeit, rot, darum in den eiszeitlichen Gräbern der rote Ocker, Sinnbild für das Leben und das Weiterleben. Wie wichtig das Blut ist, zeigt sich an der lebenden Göttin Nepals, der Kumari, einer Erscheinungsform der Kali. Es gibt sie einzig nur in Nepal. Die Kumari ist ein Mädchen, das mit drei bis vier Jahren zur Göttin erklärt wird, nachdem sie vor allem zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt: Körper und Gesicht müssen makellos und sie selbst muss ohne Furcht sein. Sie darf sich nicht verletzen, es gibt kein Messer und keine Schere in ihrer Umgebung, wenn sie in die Öffentlichkeit kommt, wird sie getragen; sie verliert ihren göttlichen Status, wenn sie blutet; so enden ihre Göttlichkeit und ihr Amt stets mit dem Einsetzen der Menstruation.
Die Gewalt, die für das Opfer notwendig ist, ist vielleicht eine Antwort auf die Gewalt, die der Mensch von den Göttern erfahren hat: Erdbeben und Überschwemmungen, Gewitter, Vulkanausbrüche, Sturm und Hagel, Seuchen und unerklärbare Krankheiten, Dürre und Hunger, Überfälle durch berittene Nomadenvölker auf die fruchtbaren Dörfer und Felder und auf die reichen Städte und die Versklavung der Überlebenden - eine unendliche Kette von Gewalterfahrungen, die die Menschen sich sachlich nicht erklären konnten und die durch Zeichen noch verstärkt wurden, Sonnen- oder Mondfinsternisse, Kometen, Vogelflug, Wahnsinn, Prophezeiungen.
Die Menschen hier haben nach wie vor das Gefühl, die Göttin, die Götter beeinflussen zu können, für das Opfer ihre Gnadengaben zu verteilen, was der mitteleuropäische Mensch schon lange nicht mehr kann, es muss ein tiefgreifender Verlust gewesen sein: kein Opfer mehr für den Gott, die Göttin abgeschafft oder umgewandelt in eine Jungfrau, die einen Sohn geboren hat, kein Einfluss mehr auf den Willensprozess, den Entscheid des Gottes, der Götter. Vor hundert Jahren, so wird uns gesagt, wurden in Nepal noch Menschenopfer gebracht, der Göttin, den Dämonen an ihrem Hals; das höchste Opfer überhaupt, zur Besänftigung ihres wahnsinnigen Zorns, ihres Wütens, ihres mörderischen Willens. Hat es geholfen? Und wenn es nicht half, wurden mehr Opfer gebracht, denn der Mensch geht nach dem Prinzip vor: viel hilft viel. Von homöopathischen Dosen hält er in der Regel nichts.
Die Engländer, dank überlegener Rationalität und kraft militärischer Macht, haben das dann abgestellt: gegen Böckchen und Hähne war vom westlichen, von Humanität geprägten Standpunkt wohl nichts einzuwenden.
Natürlich bringen wir, aufgeklärte Mitteleuropäer, keine Opfer mehr.
Und natürlich bringen wir Opfer.
Die alten Götter sind lange tot und die neuen - wir wissen es - heißen Wissenschaft, Verkehr, Technik, Konsum, Sex. Wir kennen Verkehrsopfer, Kriegsopfer, Opfer der Verhältnisse. Das Merkwürdige daran ist, dass wir, in einer säkularen Gesellschaft, an diesem Sprachgebrauch festhalten: Opfer.
Denn das Opfern gehört zu den ältesten religiösen Handlungen, seine Aufgabe war, die verborgene Harmonie der Welt, den Zusammenhang von Himmel und Erde wiederherzustellen, den Erfolg der Jagd, der Viehzucht, der Ernte sicherzustellen, Krankheiten abzuwehren und zu heilen, dem Menschen die Angst zu nehmen, kurz alles das zu leisten, was heute Wissenschaft und Technik leisten wollen. Das Opfer war der Mittelpunkt des Kults, die, wenn auch vorübergehende, Wiederherstellung der verlorengegangenen Gemeinschaft des Menschen mit dem Göttlichen.
Die Göttin Kali ist nicht immer dieselbe. Sie variiert nicht nur in den Bildern, die der Mensch von ihr gemalt, in den Skulpturen, die er von ihr geschaffen hat, sondern auch in ihrer Wirkkraft: sie fluktuiert in die Durga hinüber, die Pestgöttin, während sie als Kali die Große Mutter ist, zuwendend und grausam zugleich. Als Shakti ist sie die anmutige Gattin Shivas, manchmal stellt sie ihren Fuß auf den Gatten, den ewiglächelnden mit den vollen sinnlichen Lippen.
Aber Variation ist vielleicht nicht das richtige Wort: es findet eine Art Verwandlung statt, man muss das verstehen, um nicht stehen zu bleiben bei den äußeren Erscheinungen, bei der Anmut oder bei der Grausamkeit, obwohl das Grausame offenbar die größere Anziehungskraft auf den Menschen ausübt: die Göttin in ihrem Aspekt als Kali, die Zerstörerin, genießt höchstes Ansehen. So hat der Volksglaube die negativen Seiten der ursprünglich universalen Muttergottheit ins Zentrum seines Interesses gehoben: Warum? Ist das Negative, das Zerstörerische, das Mörderische faszinierender, anziehender, glaubwürdiger als das Schöpferische, Gute, Harmonische? Da sie aber, als Durga, das Böse bekämpft, würden ihre Grenzen verschwimmen und unscharf werden, gäbe es nicht die unterschiedlichsten Darstellungsarten. Beide Aspekte jedoch befähigen den Gläubigen, die beiden Seiten des Lebensprozesses, die schöpferische und die zerstörerische, zu erkennen und zu verstehen. Die Kali ist, wie alle anderen Götter Indiens, nur ein Aspekt der alles umfassenden, der unaussprechlichen und in ihrer Gesamtheit unfaßbaren Lebenswirklichkeit, Verkörperung der immer wieder erfahrenen, niemals endenden Grausamkeit und Erenuerung des Lebens. Darum muss sie geopfertes Blut saufen, um nicht durch Krankheiten, Unfälle und Tod Blut und Leben der Menschen zu an sich zu ziehen.
Das wahre Opfer ist nicht zweckgerichtet, es ist keine Bitte um Erfüllung von Wünschen; das hätte etwas Materielles, Abergläubisches, Krämerisches. Vielleicht liegt in seinem Ursprung das Bedürfnis des Menschen, etwas zurückzugeben für etwas Empfangenes, eine Art von Verbindlichkeit, ein Zeichen für eine Verpflichtung, die man immer dann empfindet, wenn man etwas empfangen hat. Und davor liegt, vielleicht unbestimmt, ein Gefühl von Schuld, das sich auf das getötete Tier bezieht. Wir wissen, dass manche Jägervölker den Brauch entwickelt haben, sich bei dem erlegten Wild zu entschuldigen, manchmal Stücke beiseite legen, die nicht zum Essen, sondern für ein Opfer bestimmt sind. Es ist die Sühne für die Tötung, es ist die Wiederherstellung der Harmonie der Welt, die gestört war durch die - notwendige - Jagd.
Man muss genau sein: das Wort Opfer kommt aus einer Sprachtradition, die dunkle schicksalhafte Mächte zur Erklärung einer Welt heranzog, die undurchschaubar, unabänderlich und oft ungeheuerlich war. Diesen Mächten ein Opfer darzubringen, beruhigte. Und der destruktive Aspekt wird hier als notwendig erfahren, als lebenserhaltend, ja Leben spendend. So erfahren die Menschen, dass das Auseinandergebrochene, Widersprüchliche, Getrennte und Geteilte des Lebens zusammengehört mit dem Unzerstörten, dem Sattsein und den guten Erntejahren, mit den Festen, mit Hochzeit und Geburt und mit dem Wunderbaren; dass man den Gegensätzen, die allen Erscheinungen zugrunde liegen, Ausdruck verleihen und sie damit sichtbar, erkennbar und verstehbar machen kann.
Das ist etwas, was uns nicht mehr möglich ist. Zumindest nicht in dieser einfachen und selbstverständlichen Form der Handlung, diese Fähigkeit, das Böse, Destruktive, Dunkle zusammenzudenken mit dem lebengebenden, Leben erhaltenden, lichten Aspekt in einer Person.
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