Ich hatte gerade alles aufgezählt, als ich glaubte zu erwachen. Ich erinnere mich dunkel, dass ich mir jedenfalls vornahm, schneller zu erwachen, als Gott mich für meine wenig ehrfürchtige Rede zur Hölle schicken konnte.
Ich musste meine Augen erst an die Umgebung gewöhnen. Ich befand mich nicht in dem Hotel „Marseille“, jenem kleinen heruntergekommenen Etablissement in Marrakesch, wo wir noch vor weniger als vierundzwanzig Stunden untergekommen waren. Ich befand mich auch nicht in der Berliner Lützen- oder Clausewitzstraße. Ich befand mich ganz eindeutig in Lufthansa-Flug 3342 eines großen Vogels namens Boeing 757.
Ich nahm mein Taschentuch und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Puhhh, noch mal Glück gehabt. Gott hatte mich nicht aus dem Flieger geworfen.
Ich wollte nun aufspringen, denn ich witterte Gefahr. Doch der Gurt hielt mich fest.
Fasten Seat Belt. Ich löste benommen die Schnalle.
Jetzt hielt mich noch kurz der Krallengriff des Albtraums gefangen, dann ließ auch er mich los und gab mir scheinbar die volle Orientierung zurück.
Ich befand mich auf dem Luftweg nach Berlin, und mit mir 299 andere Passagiere. Darunter meine Freundin Doro und das mit uns eng befreundete Pärchen Quiny und Wolle, der nette Dreckskerl, der es beim Start irgendwie geschafft hatte, mich am zügigen Einschlafen zu hindern.
Als Erstes warf ich einen Blick auf die Uhr. 1:12 Uhr.
Dann sah ich auf den Sitz rechts neben mir, wo Doro saß. Doch sie war nicht da. Stattdessen lag dort ein Taschentuch.
Dann sah ich weiter in der Reihe – doch die Sitzreihe war leer, völlig leer.
Dann schaute ich vor mich und schaute den Gang entlang, und voller Schrecken stellte ich fest, dass ich niemanden sah. Nirgends ein Kopf über der Lehne eines Sitzes. Nirgends ein Bein quer im Gang. Weit und breit keine Stewardess in der Economy Class.
Ich betätigte den Ruf-Knopf für das Bordpersonal, aber nichts rührte sich – auch nicht, als ich mehrmals und lange klingelte.
Über den Service werde ich mich beschweren, schrie es in mir. Ich werde Schadensersatz fordern. Doro und ich hatten eine Rechtsschutzversicherung, wie jeder kluge Deutsche. Rechtsstreitigkeiten kostenfrei!
Ich strich mir über die verschwitzten, fettigen langen Haare, über die sich das vornehme Damenkränzchen meiner Mutter jetzt zu Recht belustigt hätte. Aha, schoss es mir durch den Kopf. Man schaut Video in der First Class. Die Stewardess legt bestimmt gerade ein neues Band ein. Vielleicht sehen sie „Angst essen Seele auf“, meinen Lieblingsfilm von Rainer Werner Fassbinder.
Ich stand benommen auf. Vielleicht sehen sie auch „Jeder für sich und Gott gegen alle“, ein Film von Werner Herzog über das Leben Kaspar Hausers, der seine ersten achtzehn Lebensjahre in einem engen Kellerverlies verbringen musste, isoliert von jeglichem menschlichen Kontakt, außer zu einem Fremden, der ihm sein Essen brachte. Ich ging nach vorne und schob den Vorhang, der die Abteile trennte, zur Seite. Den Kaspar-Hauser-Film wollte ich schon lange mal sehen. Die Rezensionen waren vielversprechend.
Was ich sah, rebellierte gegen meinen Verstand:
Kein Video! Kein Mensch! Keine Stewardess! Die erste Klasse war völlig leer, ebenso wie die Economy Class.
War das Gottes Rache – die Vernichtung der Ersten Klasse? Hatte er gar auf mich gehört, hatte er den Klassenkampf zugunsten der Benachteiligten entschieden? Oder hatte er eigentlich die Zweite Klasse, in der ich saß, aufs Korn genommen und der Einfachheit halber das menschliche Leben von allen Klassen erlöst? Hatte er sich bei der Klassenwahl getäuscht, war es ein Versehen? Er hatte sich schon so oft getäuscht. Jahrtausende lange Täuschungen.
In diesem Moment ertönte der überlaute Ruf.
Es war Doro, sie rief nach der Stewardess.
Zwischenlandung bei den Kelly Kids
Am nächsten Morgen wachte ich in einem Hotelbett neben Doro auf.
„Wo sind wir?“, fragte ich.
„In Madrid; der Flieger hatte technische Schwierigkeiten. Und du hattest hohes Fieber. Ich muss jetzt deine Temperatur messen.“
Ich war wohl heillos überfordert gewesen, körperlich und psychisch, dazu ein Infekt – und nun lag ich hier an meinem Geburtstag. Die erste Hotelübernachtung ging auf Kosten der Lufthansa. Auf Doros hartnäckiges Betreiben hin durften wir beide allerdings zwei Übernachtungen bleiben, obwohl das Hotel am Madrider Flughafen ab dem Folgetag angeblich ausgebucht war. Ich war noch viel zu schwach, um die Weiterreise antreten zu können. Meinen Geburtstag im Krankenbett zu feiern, war mal was Neues. Doro besorgte mir ununterbrochen Tee und versorgte mich mit Obst, Tapas und irgendwelchen obskuren Genesungspillen.
Ich schlief den ganzen Tag bis zum nächsten Vormittag und war nach der üblichen spanischen Siesta-Zeit um 17:00 Uhr wieder soweit fit, dass wir gemeinsam einen kleinen Spaziergang in Madrids Altstadt unternehmen konnten. Das Taxi setzte uns in der Nähe der Kunstgalerie »Circulo de Bellas Artes« ab. Von dort aus schlenderten wir Richtung »Museo Nacional Thyssen-Bornemisza« und kamen schließlich am »Plaza Mayor« an.
„Was hat denn der Thyssen-Konzern hier in einem Museum verloren?“, fragte Doro. Ich wusste es nicht. Warum das Museum den Namen Thyssen führte, würde ich vielleicht später herausfinden.
Eine große Menschentraube stand am Plaza um eine achtköpfige Gruppe singender Kinder und Jugendlicher herum, die mit den unterschiedlichsten Instrumenten eine tolle Gesangsschau abzogen. Mittendrin befand sich ein älteres Paar, das sich beim Singen gegenseitig anhimmelte und voller Energie und Leidenschaft die Kinderschar in ihrem Gesang mitriss. Fast schien es mir, als sei dies eine große Familie. Die hüftlangen Haare fast aller Gruppenmitglieder und ihr ungewöhnlicher Kleidungsstil sprangen ins Auge.
„Das ist eine am Existenzminimum nagende Großfamilie“, sagte Doro.
„Es scheinen Geschwister zu sein, und die beiden Älteren sind wahrscheinlich Vater und Mutter“, meinte ich.
Die Geschwister traten in teils ländlichen, teils hippieähnlichen Gewändern und Kostümen auf.
Doro wiegte ungläubig den Kopf. „Die müssen sämtliche Flohmärkte, Antiquitätengeschäfte und Secondhandläden abgegrast haben.“
„Oder sie haben einen Theaterfundus aufgekauft.“
Musik und Gesang der Gruppe klangen bezaubernd und rissen uns in ihren Bann.
„Ist zwar nicht meine Musikrichtung“, sagte Doro, „aber die können wirklich was!“
Wie um das zu bestätigen, brandete jetzt tosender Applaus auf, der sich fast zu einer kleinen Fan-Hysterie steigerte. Das war ein richtig gutes Straßenkonzert, wie wir es bisher in dieser musikalischen Wucht noch nicht gehört hatten – auch wenn es nicht unbedingt unserem „reinen“ Hippie-Musikstil entsprach. Sie sangen alte spanische Volkslieder, und es waren Akkordeon, Banjo, Violine, Saxophon, Geige und zwei afrikanische Trommeln im Einsatz.
So lernten wir sie zufällig kennen, es war eines ihrer ersten Straßenkonzerte vor einer größeren Menschenmenge. Sie nannten sich » The Kelly Kids«. Wir kauften ihnen eine Kassette ab, die wir ein paar Tage später aus unserem Reisegepäck auskramten und zuhause auf zwei leere Kassetten kopierten. Eine davon brachten wir als Geschenk bei der Clausewitz-WG vorbei, die andere schickte ich meinen Eltern nach Frankfurt.
Sechs Jahre später, als die »Kelly Family« ihren ersten Hit landete, suchte ich verzweifelt nach einer dieser Kassetten. Doro und ich hatten uns zu dieser Zeit getrennt und unsere musikalische Erinnerung aus Madrid war verschwunden. Auch das Mitbringsel für die Clausewitzer war 1980 unauffindbar.
Jetzt aber, im September 1974, freuten sich unsere Freunde über „diese musikalische Rumdudelei“, wie Peggy meinte. Meine alte gute Wohngemeinschaft Clausewitzstraße 2 in Charlottenburg bestand inzwischen aus sechs Bewohnern. Rolf, unser orthodoxer Marxist-Leninist, war eine ehrliche Haut und immer noch gut im Secondhand-Geschäft unterwegs, womit er reichlich Knete verdiente, denn er hatte als Erster diese Idee vom Gebrauchtkleiderhandel in Westberlin auf den Markt gebracht – eine beachtliche kapitalistische Leistung, auf die er jetzt mit seinen 25 Jahren schauen konnte.
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