Die großen Anfälle hatten es auch wirklich in sich. Ohne jede Voranmeldung bin ich einfach so aufs Gesicht gestürzt ohne mir mit den Armen zu Hilfe zu kommen und fing an zu krampfen, zu zittern, urinierte, kotete nicht, biss mir auf die Zunge, stieß mich hier und da, alles wie aus dem nichts in den unmöglichsten Situationen. Wir sind nicht aus Vorsicht zuhause geblieben. Meine Eltern nahmen mich überall mit hin. Und so geschah es beim Familienfest, im Supermarkt, im Freibad, im Restaurant… wo auch immer, und natürlich auch im Schlaf. Meine Eltern hörten vom etwas entfernteren Elternschlafzimmer meinen Initialschrei im Kinderzimmer, kamen angelaufen und fanden mich mitten in der Nacht am Krampfen.
3x kamen sie fast zu spät, mein Kopf war unter dem Kopfkissen bereits blau angelaufen, sie drehten mich um, schüttelten mich, als der Anfall bereits vorbei war, dann setzte meine Atmung wieder ein. Weitere zwei Male später kam der Hausarzt Dr. Brunswig nachdem ihn mein Vater mitten in der Nacht verständigte und reanimierte mich. Zu der Zeit war ich etwa 13 – 15 Jahre alt. Meine Anfälle dauerten im Schnitt jeweils 2o Minuten.
Und alle EEGs waren danach bei Dr. Blumenbach ohne Befund.
6. Kind im Gitterkäfigbett
Ich persönlich kannte ja nur meine Anfälle vom Hören Sagen. Ich hatte noch nie einen epileptischen Anfall gesehen. Das sollte sich ändern. Zur genaueren Diagnostik schickte mich Dr. Blumenbach ins Städtische Klinikum Lüneburg auf die Kinderstation. Der Aufenthalt war unglaublich nachhaltig für mich.
Neben mir lag ein etwa 4 jähriges Kind in einem vollvergitterten Kinderbett auf Rollen. Es sah aus wie ein Käfig, war es auch, der Junge konnte drin stehen. Kaum hatte ich dieses Kind entdeckt, bekam es einen großen Anfall. Ich erschrak zutiefst. So sehe ich also aus, wenn ich 1 - 2x im Monat so einen Anfall habe. Der Junge tat mir unendlich leid. Darüber vergaß ich in dem Moment meine eigenen Anfälle. Aber es verhielt sich anders, als ich vermutete. Schon nach etwa 2 Minuten war der Anfall des Kleinen vorbei, er schaute kurz auf und spielte dann weiter. Die Schwester kam, ich berichtete ganz aufgeregt, was vorgefallen war und sie bejahte, ja, sie wüsste das. Ich solle aber nicht erschrecken, in ca. 15 Minuten käme der nächste Anfall bei dem kleinen Jungen. Und so geschah es auch den ganzen Tag. 4 Grand Mal Anfälle in der Stunde. Ich war fassungslos einerseits – übermütig andererseits, dass es mir doch so gut ging.
Und ab diesem Aufenthalt wurde ich angstfrei. Aus meinen eigenen Anfällen machte ich mir nicht mehr so viel. Übermut ist wirklich das richtige Wort. Aber es war sehr gefährlich.
7. Hamburg 1982, Alsterdorfer Anstalten bei Prof. Funke
1982 las meine Mutter einen Artikel in der Zeitung mit einem Interview mit Herrn Prof. Funke aus den Alsterdorfer Anstalten über das Thema Epilepsie. Sie musste sofort an mich und meine ausweglose Situation denken. Meine Mutter war ein außerordentlich lebhafter Mensch; immer auf den Beinen, immer eine gute Idee.
So dauerte es nicht lange, dass sie einen Termin zur Sprechstunde bei Prof. Funke für mich in Hamburg (eine Autostunde von Bardowick) ausmachte. Sie brauchte aber eine Überweisung von Dr. Blumenbach für mich. Dabei geriet sie ins Stolpern. Dr. Blumenbach war mit der Konsultation überhaupt nicht einverstanden, Zähneknirschend übergab er ihr schließlich die Überweisung.
Herr Prof. Funke, die große Epilepsie Koryphäe nahm sich tatsächlich Zeit für uns. Meine Mutter war glücklich, ich skeptisch. Da ich aber nun überhaupt nichts zu verlieren hatte, im Gegenteil, bin ich freudig mitgegangen.
Er nahm sich Zeit für uns, hörte geduldig zu, machte noch ein EEG von mir und sah es durch. Prof. Funke kritisierte meine Medikation. Er schlug Leptilan (Valproinsäure) vor. Leptilan war Anfang der 1980er sehr vielversprechend auf den Markt gekommen. Herr Dr. Blumenbach solle es mir verschreiben, Prof. Funke gab uns einen Arztbrief mit. Natürlich war Herr Dr. Blumenbach von diesem Medikamentenwechsel überhaupt nicht angetan, verschrieb es aber.
Vom Leptilan nahm ich an Gewicht so einige Kilo zu. Außerdem hatte es Einfluss auf meine Monatsblutung. Die Regel blieb aus. Oh Schreck, ich hatte schon einen ersten Freund, kann das sein? Schwanger? Die Alarmglocken schellten. Auf in die Apotheke, Schwangerschaftstest kaufen.
Der 1. Test war positiv, der 2. auch, der 3. negativ. Oh je oh je… auf zur Gynäkologin. Große Untersuchung, Entwarnung, nicht schwanger.
Und in den folgenden Monaten wurde es mit der Unregelmäßigkeit nicht besser. Wir wurden vorsichtig und benutzten statt der Pille Kondome.
Das Leptilan behielt ich vorerst, auch wenn es nicht unbedingt gegen die Anfälle half; es war besser, als gar nichts.
8. In der Schule geschnitten, gemieden und gemobbt
Von 1971 bis 1975 ging ich in Bardowick zur Grundschule. In Bardowick gab es vier 1. Klasse mit je 30 Kindern. Es war eine schöne Zeit, unbeschwert, spannend und abwechslungsreich. Es ging mir ja auch gut, ich hatte noch keinen dieser schrecklichen Anfälle. Da war nichts, was mich belastete.
Nach der Grundschulzeit kam ich 1975 aufs Gymnasium nach Scharnebeck. Weitere Gymnasien waren in Lüneburg. Es gab damals so eine normale Übereinkunft der umliegenden Gemeinden, dass Kinder aus Dörfern im Landkreis Lüneburg nach Scharnebeck kamen. Nur wer Beziehungen, besondere Kontakte oder bereits Geschwisterkinder auf Lüneburger Gymnasien hatte, konnte sein Kind nach Lüneburg schicken.
Scharnebeck war 10 km von Bardowick entfernt. Es fuhren Schulbusse, die nach und nach die Kinder aus den Gemeinden abholten. In den Bussen war es unendlich laut und stürmisch. Ich empfand die eineinhalb stündige Fahrerei als absolute Herausforderung. Ab und an hatte ich das Glück, dass meine Mutter mich mit dem Auto gefahren hat.
Nun also die Gymnasialzeit. Es war für mich der reinste Horror. Ich bin absolut ungern hingegangen. Vor laufendem Klassenbetrieb bekam ich meine Anfälle. Ich wurde von vielen gemobbt, gemieden und belacht. Klar, ich hatte auch die eine oder andere Schulfreundin. Aber meine Mitschüler machten mir deutlich klar, dass ich unerwünscht war. Sie tuschelten hinter meinem Rücken. Ich durfte beim Geräteturnen nicht mitmachen. Darauf waren einige neidisch.
Notfallmedikamente gab es in der Zeit noch nicht in der Form, dass sie mir vom Klassenlehrer verabreicht wurden, oder gar im Schulsekretariat im Fach lagen. Dazu war auch gar keine Zeit. Ich hatte ja kein Vorgefühl, keine Aura. Es passierte einfach so, peng: Anfall. Vom Stuhl gekippt und gezuckt, uriniert--- das komplette Programm. Nach diesen großen Anfällen ist es bei mir so, dass ich später in einen mehrstündigen Tiefschlaf falle. Ich komme nach dem Anfall zu mir und bin fix und fertig. Für kurze Zeit legte man mich auf eine Liege. Die Lehrer riefen dann bei meinen Eltern an. Meine Mutter setzte sich ins Auto und kam, um mich abzuholen, damit ich zuhause schlafen konnte.
Jetzt, 35 Jahre später, ist meine Erinnerung nur noch sehr schwach. Es war so schrecklich, dass ich vieles verdrängt habe.
Auf der anderen Seite habe ich mir meine Traurigkeit über das Verhalten meiner Mitschüler auch nicht so anmerken lassen. Ich war kein introvertiertes stilles Kind. Nein. Im Gegenteil, ich war nach außen hin so ein bisschen cool und lauter, ich wollte dazu gehören. Ich trug Anti Atomkraft Sticker und lief in Jeans und Parka rum. Wir waren kein typisches Popper- Gymnasium, so wie Bettina mir heute von ihrer Schule erzählt. Bei uns gab es alles: links, rechts, Popper, alternativ und ein paar Punker. Wir waren halt alle nicht aus einem bestimmten Stadtteil, sondern setzten uns aus Kindern und Jugendlichen, die aus dörflicher Struktur kamen, zusammen.
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