Und wenn eines der Babys seine Windel vollgeschissen hatte, musste es warten, bis es laut Schwesternplan an der Reihe war.
Was machte das Baby also wenn es seinem Unmut Luft machen wollte, denn in der eigenen Scheiße zu liegen ist immer unangenehm?
Es schreit..........aber es kommt keiner...........die anderen Babys haben vermutlich ein ähnliches Problem....auch sie schreien......es kommt immer noch keiner....so eine Schwester kann ja nicht gleichzeitig bei jedem Baby sein.
Und sie kommt auch nicht, um zu trösten, sondern kommt, weil sie ihren Job machen muss, also um die Windel zu wechseln.
Und wenn es ans Essen geht, dann ist sie nur deshalb da, weil sie dem Baby die Flasche gibt.
Woran ich überhaupt nicht denken mag, ist die Tatsache, dass in jener Zeit die Hände und Füße der Babys an den Gitterstäben festgebunden wurden.
usw. usw. usw.
Ich heule immer wieder, auch jetzt wenn ich darüber nachdenke, aber es war so, und ich kann nichts daran ändern.
So erging es mir also die ersten 10 Monate meines Lebens, und das war meine frühkindliche Prägung.
Dann kam es zur Adoption durch meine jetzigen Eltern.
Plötzlich kehrte sich die Situation um. Ich war der Mittelpunkt, umhegt und umsorgt, geliebt und beachtet. Ich wurde nur einmal bis heute von meinem Vater geschlagen und zwar weil ich mit 8 Jahren dem Zahnarzt vors Schienenbein getreten habe.
Meine Eltern warteten lange auf das erste Wort, welches ich sprechen können sollte. Erwartet wurde "Mama" oder "Papa". Ich entschied mich anders. Ich stand im Gitterbettchen und wollte raus. Meine ersten gesprochenen Worte waren nicht ein einzelnes Wort, sondern der Satz: "Mama bitte hole mich".
Aus meiner Perspektive war also genau bis zu meinem 3. Lebensjahr alles im grünen Bereich.
Denn dann kam es zu dem Moment, der mein gesamtes späteres Leben nachhaltig vorbestimmte und glaube mir bitte, es können noch 1 Mio. epileptische Anfälle oder geplatzte Aneurysmen kommen, die mein Gehirn vernebeln, aber das werde ich niemals vergessen:
Ich saß im Alter von 3 Jahren mit Spielkameraden in der Sandkiste. Dann klaute ich einem Nachbarsjungen seine Sandform. Der fand das doof und wollte mich zurückärgern. Er sagte:
"Und außerdem hast du gar keine richtigen Eltern, meine sind wenigstens echt, du bist nur ein Adoptivkind."
Ich war völlig entsetzt und rannte zu meiner Mutter. Bis dato wusste ich nicht was das war, vor allem nicht, dass ich es war.
Ich erzählte meiner Mutter also, was derjenige gesagt hatte.
Und sie hat aus heutiger Sicht überaus klug reagiert. Sie erzählte mir in den liebevollsten und schillerndsten Worten wie das war, wie sie mich ausgesucht hatten und schließlich zum Heiligen Abend 1965 auf einem blütenweißen Kissen in ihr Haus trugen, wie toll das war, wie glücklich meine Eltern waren, gerade mich gefunden zu haben und dass ich natürlich ihr richtiges Kind sei. Dann ging sie zum Schrank, zeigte mir (3 jährig) die Geburts- bzw. Adoptionsurkunde und sagte:
"Siehst Du Susanne, wir sind Deine richtigen Eltern und das haben wir sogar schriftlich."
(p. s. soweit ich weiß lebt meine richtige Mutter noch. Einmal wollte ich sie kennenlernen, nahm mit Hilfe eines Psychologen all meinen Mut zusammen und habe bei ihr geklingelt, mich vorgestellt und meinen Wunsch geäußert, sie kennenlernen zu wollen. "Das haben Sie ja jetzt getan" war ihre Antwort. Und dann schloss sie ihre Haustür wieder zu. Das ist alles was ich von ihr weiß.)
Für mich als Dreijährige war alles klar, supertoll und so rannte ich wieder zurück in die Sandkiste, verschränkte meine Arme in den Hüften und stellte mich breitbeinig vor diesen Nachbarsjungen. Dann sagte ich:
"Du hast gelogen, ich bin ihr richtiges Kind, das haben wir sogar schriftlich"
Für den Nachbarsjungen war die Situation damit abgefrühstückt, wir vertrugen uns wieder und spielten weiter. Nur in meinem Kopf regten sich die Gedanken über das was ich gerade erfahren hatte.
Um 16:15 Uhr kam mein Vater von der Arbeit nach Hause. Das war immer der Moment wo ich vom Spielen nach Hause lief, ihn begrüßte, mich an den Tisch zum nachmittäglichen Kaffeetrinken dazu setzte, und mein Glas Saft trank.
Meine Gedankenwelt war mittlerweile dahingehend fortgeschritten, dass ich folgende Frage äußerte:
"Hättet Ihr auch ein anderes Kind nehmen können, als gerade mich?"
Meine Mutter war es, die wie auch zuvor eine perfekte Antwort auf den Lippen hatte:
"Ja Susanne, da waren noch zwei andere Babys und sogar ein Negerbaby, aber wir fanden dich so lieb und süß, dass wir dich genommen haben."
Natürlich war ich mit dieser Antwort überaus zufrieden, spiegelte es doch wieder, warum gerade ich die Auserwählte war und wie süß und lieb ich war. Deshalb war für mich alles ok, ich trank aus und lief los, um mit den Nachbarskindern weiterzuspielen. Und auch dann arbeitete mein Gehirn weiter an dieser neuen Information.
Abends, als meine Mutter mich ins Bett brachte und mir "Gute Nacht" sagte, hatte ich die 3. Frage auf den Lippen. Es gab allerdings ein Problem, welches mich dazu veranlasste, sie niemals zu stellen. Dieses Problem war sehr einfach. Meine Frage konnte nur mit Ja oder mit Nein beantwortet werden. Und weil ich von Anfang an vor den Folgen einer möglichen "Ja" Antwort Angst hatte, wagte ich damals nicht diese Frage zu stellen:
"Bringt Ihr mich wieder zurück, wenn ich nicht artig bin?"
Diese Frage stellte ich also niemals, weil ich Angst vor der Antwort hatte, und es war eigentlich kein Drama, was ich erlebte. Denn was ich wusste war doch:
"Wenn ich mich bemühe, immer artig zu sein und nicht über die Strenge schlage, dann bringen sie mich garantiert nicht zurück."
Und so verhielt ich mich auch. Solange, bis ich fast das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Ich wollte immer, dass sie stolz auf mich waren und ich sie glücklich machte. Und als ich erwachsen war, wollte ich, dass andere mit mir zufrieden sind. Natürlich bin ich auch einmal unartig gewesen, aber ich hatte mir den Grenzbereich selbst genau vor Augen gelegt. Das und das kannst Du noch machen... und das und das darfst Du nicht, weil sie dich dann bestimmt zurückbringen würden.
So in etwa deutet sich meine psychische Störung in Sachen Adoption an. Ob ich mich von diesen Gedanken zum Ereignis jemals werde befreien können, ich weiß es nicht.
3. Dr. med. Arnold Blumenbach, der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Ich hab das extra so förmlich tituliert, weil er eine absolute Persönlichkeit in Lüneburg war. Meine Mutter hatte angerufen, einen Termin vereinbart und ging mit mir zum ersten Besuch hin.
So, so, Nervenarzt und was? Psychia … klingt nach Klapsmühle … hmm … wenn ich das heute so überdenke, waren meine Eltern superlieb und mutig. Sie haben das Alles mit mir durchgestanden. Ja, wenn nur die Nachbarschaft nicht beobachtet, dass man dort in die Praxis hinein geht. Aber meine Mutter war unendlich tapfer, hatte mich an der Hand und öffnete die Tür.
Ich war aufgeregt und natürlich unendlich neugierig. Über die Dramatik meiner Erkrankung war ich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht so ganz im Klaren. Ja, der Hausarzt Dr. Brunswig sprach schon in einigen Sätzen davon, dass Anlass zu Vorsicht geboten sei, ich dieses oder jenes nicht unbedingt tun sollte, aber mehr auch nicht.
Drinnen war es nicht so schön hell, wie Licht durchflutete Räume, alles war so ein bisschen altbacken. Wir warteten nach der Anmeldung kurz im Wartezimmer, dann bat uns die Sprechstundenhilfe ins große Sprechzimmer. Erst zu den folgenden Terminen empfing uns Dr. Blumenbach in einem der drei kleineren Sprechzimmer.
Dann kam er schweren, aber schnellen Schrittes herein, setzte sich und begrüßte erst mich, dann meine Mutter. Er hatte schwarze glatte Haare, einen Seitenscheitel, eine Brille und eine Hasenscharte. Das war mir sofort aufgefallen. Seine Sprache war schnell, laut, und Ehrfurcht einflößend.
Читать дальше