Abschließend ist zu vermelden, dass der Heimleiter sich in diesem Heim bereicherte und später aus seiner Position entfernt werden musste. Selbst den Ärmsten der Armen kann man immer noch etwas wegnehmen….
Im Sommer 1948 begannen die Schulferien und erstaunlicherweise waren nur 1-er und 2-er auf meinem Zeugnis. Ein älteres Ehepaar tauchte auf und führte ein freundliches Gespräch mit mir. Nach kurzer Zeit wurde mir klargemacht, dass sie mich mitnehmen möchten, da ihre beiden Söhne im Krieg gefallen waren. Auch Frau May, die uns im Industriegelände abgeholt hatte, war zugegen und ich hörte wie das Ehepaar sagte, dass sie nur mich haben möchten, da ich ihrem Sohn Hans ähnlich sehen würde und sie über meinen Bruder nichts Gutes berichtet bekommen hatten. Frau May hielt sich an die Vorgabe unseres Großvaters, indem sie darauf beharrte, dass die Geschwister nicht getrennt werden dürfen und wir nur als Doppelpack zu haben sind. Sie hatte keine Ahnung, dass mein Bruder bisher in meinem Leben keine positive Rolle spielte und das Bruderverhältnis keinesfalls innig war. Schweren Herzens sagte Familie Rieck zu und nahm beide Brüder.
„Ei Heinz, wo sind denn deine Schuhe“ sagte die Frau. „Ich habe keine“ war meine Antwort, also ging ich barfuß mit.
Ab jetzt begann für mich ein neuer, besserer Lebensabschnitt – was für ein Glück!
Kapitel 2: 1947- 1959 Kindheit Teil 2 und Jugend
2.1 Aufnahme bei den Pflegeeltern in Dresden-Oberloschwitz
Als Kind weiß man im Gegensatz zu den Pflegeeltern erst einmal gar nicht mit wem man es zu tun hat und kann nur ahnen und hoffen, dass die neuen Erziehungsberechtigten es gut mit einem meinen. Auf jeden Fall war ich inzwischen äußerst misstrauisch geworden und ließ die Dinge geschehen, denn viel schlimmer konnte es nun nicht mehr werden.
An dieser Stelle möchte ich aus heutiger Perspektive eine kurze Einschätzung zur damaligen Situation meiner Pflegeeltern geben.
Hans Rieck, gelernter Steingutdreher, arbeitete schon viele Jahre bei der weltbekannten Firma Villeroy & Boch - kein leichter Job. Seine Ehefrau Margarete war Halbjüdin und Tochter einer Klavierlehrerin mit ausgeprägt bürgerlichen Eigenschaften. Das Ehepaar hatte zwei bildhübsche Söhne namens Albert und Hans. In den dreißiger Jahren konnte das Ehepaar mit viel Fleiß, Mühe und Entbehrung eine Eigentums – Doppelhaushälfte mit Garten im Rahmen einer Eigentümergemeinschaft aufbauen und erwerben. In dieser Eigentümergemeinschaft waren auch Arbeitskollegen von ihm Miteigentümer. Hans Rieck war überzeugter SPD – Mann und daher nach der Machtergreifung Hitlers ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus, was im Gegensatz zu seinen Arbeitskollegen, die sich angepasst und in die NSDAP eingetreten waren, nachteilig auf sein weiteres berufliches Fortkommen ausgewirkt hat. Während die Mitläufer Meister wurden, blieb er einfacher Geselle. Nach Kriegsausbruch wurden beide Söhne zur Wehrmacht eingezogen und beide sind nach kurzem Fronteinsatz gefallen. Kurz darauf verschärften sich die Ariergesetze in Nazideutschland (Ein Herr Globke war Verfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze im sogenannten 3. Reich und später Adenauers engster Berater). Vierteljuden erklärte man für wehrunwürdig und halbjüdische Ehefrauen erhielten keine Lebensmittelmarken mehr. Den Ehemann setzten die Nazis unter Druck, weil er sich von seiner Frau scheiden lassen sollte, damit man sie in ein Konzentrationslager hätte überstellen können. Hier wird die ganze Menschenverachtung des Nazipacks offenkundig, die Verstrickung der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland mit Nazi-Eliten deutlich und es ist mir heutzutage unerklärlich, wie man so einer schändlichen Ideologie überhaupt noch Raum geben konnte und heute wieder kann….
Wie verbittert und verzweifelt das Ehepaar war, kann man sich leicht vorstellen. Doch Leid und Not schweißen auch zusammen. Besonders hervorzuheben ist, dass sich das Ehepaar um ein Pflegekind bemühte und tatsächlich ein Mädchen namens Lotte vor dem KZ bewahrte und in die Familie aufnahm, der Tatsache geschuldet dass sie zwei Söhne im Krieg verloren hatten. Doch die Nazis ließen nicht locker. Da er nicht willens war sich von seiner Frau zu trennen und auch noch ein halbjüdisches Kind in die Familie genommen hatte, stellten sie ihn vor die Entscheidung: Entweder Strafgefangener im Steinbruch oder Wehrmachtsangehöriger im Volkssturm. Da er schon einschlägige Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg mitbrachte und auch wusste, dass der Steinbruch der absolut sichere Tod war, entschied er sich für den Volkssturm, in der Hoffnung davonzukommen. Wie bitter das für die Ehefrau gewesen sein musste und welche Kämpfernatur nach all dem Leid und Verlust sie war liegt auf der Hand. Schon beim ersten Fronteinsatz nahe Frankfurt an der Oder ergab er sich den Russen, ohne auch nur einen Schuss abzufeuern. Dass er von den Russen verschont wurde ist seinem Handeln zu verdanken und seine Gefangenschaft hat nicht lange gedauert, da er als Arbeitskraft schon zu alt und damit wertlos für die Russen war. Wie viele Kameraden in der Gefangenschaft an der Amöbenruhr (eine gefährliche Durchfallerkrankung) gestorben und durch Überarbeitung zu Grunde gegangen sind, hat er mir später einmal geschildert…
Nach dem Krieg kam er völlig verlaust, aber lebend und unverletzt wieder nach Hause und hatte die große Hoffnung, dass nun alles besser wird. Dass er schon 1946 zwangsweise seinen SPD-Status verlor, da auf sowjetischen Druck hin KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone zur SED-Partei vereinheitlicht wurden, ist ihm später bitter aufgestoßen! Auch er wollte mithelfen, dass ein besseres, gerechteres, friedliches Deutschland gestaltet wird und meldete sich zum Dienst bei der Polizei, um für Recht und Ordnung zu sorgen. In dieser Funktion war er, als wir Geschwister nach Dresden – Oberloschwitz in dem im Volksmund genannten „Kamerun“ (nach der gleichnamigen Gaststätte benannt) auf dem Amselsteg 15 ankamen und deshalb wurde der Aufnahme von zwei Pflegekindern aus einem Heim für Schwererziehbare überhaupt zugestimmt.
Leider hatten die Pflegeeltern mit Lotte keine Freude, denn trotz guter Erziehungsmaßnahmen entwickelte sich dieses Kind zur Russenhure und Betrügerin. Das war auch der Grund warum sie sich von diesem in der Pubertät befindlichen Mädchen trennen wollten und einen Pflegesohn anstrebten, denn allein wollten sie nicht bleiben….
Als wir vor der Gartentür standen war ich angenehm überrascht, was das doch für ein schönes Haus war. Einen Garten mit Spalierobst und Beerensträuchern und sogar einen kleinen Steingarten mit Bassin konnte ich sofort erspähen. Das Haus hatte ein Erd- und Obergeschoss, sowie unterm Dach noch eine Mansarde, abgetrennt vom Trockenboden. In diese Mansarde wurden wir gleich eingewiesen, denn das war nun unser Schlafzimmer. Hier standen zwei Betten für meinen Bruder und mich. Dieser Raum hatte eine Tür zur Bodentreppe und auch ein kleines Fenster von dem man aufs Dach und den Weg im Hintergrund blicken konnte. Ohne Wärmedämmung war dieser Raum im Sommer sehr heiß und im Winter bitter kalt. Und doch war das ein Paradies im Vergleich zum Massenschlafplatz im Heim, mal abgesehen davon, dass man für sich war. Anschließend ging es eine Treppe wieder herunter und ins Wohnzimmer hinein, von dem aus die Küche abging. Erstaunt war ich, dort einen Grudeofen zu sehen. Dies ist eine der billigsten aber auch schmutzigsten Art der Wärmegewinnung. Hier wurde Kohlengruss auf einem Aschebett verbrannt, wobei dieser Gruß (Kohlen- oder Brikettabrieb) laufend nachgefüllt und parallel dazu die Asche abgerüttelt und entsorgt werden musste. Zunächst nahmen wir im Wohnzimmer Platz und es gab sofort auch etwas zu essen und zu trinken. Danach besichtigten wir noch das WC und die sogenannte gute Stube im Erdgeschoss, wobei mir auffiel, dass da ein wunderbares Klavier stand. Frau Rieck sagte, dass sie früher Klavier gespielt habe (ihre Mutter war ja Klavierlehrerin), aber seit dem Tod ihrer Söhne das Klavier nicht mehr angerührt habe. Zum Abschluss der Einführung in die neue Familie besichtigten wir dann noch den Garten und sahen, dass es da einen großen Klodenbaum gab. Außerdem erfuhren wir, dass es noch 1000 m² Eigentumsland auf der Tännichtstrasse mit vielen Erdbeerpflanzen und Bäumen gibt. Da war mir ums Überleben nicht mehr Bange.
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