„Mit dir kann ich reden,“ hatte Franz gesagt. Dieser Satz ging Max immer wieder durch den Kopf. Er freute sich über den Satz, denn es zeigte ihm, dass er noch nützlich sein könnte. Na ja, Max übertrieb vielleicht. Natürlich hatte er immer noch zu tun, und wie er meinte, viel zu viel zu tun. Er hatte sein Geldvermögen gut angelegt, und er beobachtete seine Anlagen und wurde immer dann tätig, wenn seiner Meinung nach die Entwicklung unbefriedigend war. Dann hatte er seine Zeitungen, deren Wirtschaftsnachrichten er sehr genau verfolgte, und zu denen er gelegentlich auch Kommentare schrieb. War das wirklich nützlich? Und wenn er mit diesen Tätigkeiten nicht befasst war, so las er in seiner Bibliothek eines seiner vielen Bücher, die er im Laufe der vielen Jahre gesammelt und nicht gelesen hatte. Die Bibliothek, die mehr als dreitausend Titel umfasste, war vor allem mit historischen Sachbüchern gefüllt. Geschichte, vor allem die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, interessierte ihn sehr, und er meinte, man könne viel aus den Geschehnissen auch für die Gegenwart lernen. Aber waren seine Gedanken wirklich nützlich? Für wen waren sie nützlich? Wenn alles das, was er tat, nicht nützlich war - warum lebte er noch?
Die wertvolle Kunstsammlung im Haus war früher für ihn und seine Frau sehr wichtig gewesen. Er und seine Frau hatten vor allem auf Auktionen wahre Kunstschätze erworben, hauptsächlich Gemälde, die jetzt in seiner Bücherei, im Esszimmer und im unteren Korridor hingen. Jedes Bild war gut versichert, aber der Versicherungsvertreter hatte bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass dieses abseits gelegene Haus nicht gut genug abgesichert sei, trotz der Alarmanlage. Max hatte daher in letzter Zeit oft daran gedacht, die Bilder und die zwei oder drei Skulpturen dem Kunstmuseum zur Verfügung zu stellen. Daraus war bis jetzt nichts geworden, nicht zuletzt deshalb, weil sein Interesse an den Schätzen nachgelassen hatte, und weil er glaubte, dass seine Zeit zu sterben noch nicht gekommen war.
In den nächsten Wochen trafen sich die beiden Männer regelmäßig im griechischen Restaurant, und immer wurden sie von dem freundlichen Guiseppe bedient. Es gab noch andere Kellner im Restaurant. Einmal bediente ein anderer Kellner die Freunde, was Max zur Frage bewegte, wo denn Guiseppe sei.
"Er kommt sofort," sagte das neue Gesicht, und es dauerte auch nur zwei Minuten, dann tauchte Guiseppe auf, und lachend sagte er: "Er habe privat etwas tun müssen." Max grinste. Auch Kellner müssen mal pinkeln, sagte er sich.
Eines Morgens hatte Max seiner Haushälterin Frau Kranig beim Frühstück erneut von seiner neuen, so merkwürdigen Freundschaft erzählt und davon, dass Franz so langsam sterbe. Das sei bedrückend, traurig, und doch freue er sich auf die Gespräche mit diesem Franz.
„Dieser Franz hat nicht studiert, aber er ist nicht ungebildet, und wenn er von sich oder seinen Kindern erzählt, so sehe ich das alles vor mir. Er redet auch vom Arbeitsamt, und er beschreibt die Beamten dort – manchmal muss ich laut lachen.“
„Der Mann stirbt, haben Sie gesagt?“ Frau Kranig schüttelte den Kopf.
„Ja, er hat Krebs, und da ist wohl nichts mehr zu machen.“
„Und da freuen Sie sich auf die Gespräche?“ fragte Frau Kranig.
Als Max nickte, sah sie ihn an als wäre er nicht mehr der Chef, den sie so viele Jahre hindurch betreut hatte. Sie sah einen alten Mann, der „vielleicht nicht mehr ganz richtig im Kopf“ war.
Beim nächsten Mal steckte Max seinem neuen Freund einen gefüllten Briefumschlag in dessen Jackentasche. Franz mochte ahnen, dass in dem Umschlag Geld steckte. Tatsächlich hatte Max fünfhundert Euro in den Umschlag gepackt. Franz holte den Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Max wieder zurück.
„Das geht nicht,“ erklärte Franz mit einem sehr abwehrenden und doch traurigen Blick.
„Franz, das geht,“ antwortete Max, und er schob den Umschlag Franz wieder zu.
Beide schwiegen eine ganze Weile, sie schauten sich an. Schließlich war es Max, der sagte, sein Freund solle das Geld nehmen. Und er sagte weiter: „Franz, ich habe Geld. Ich bin nicht arm. Du kannst es nehmen, denn du brauchst es, ich brauche es nicht. Und noch etwas. Deine Freundschaft kann ich mit Geld nicht aufwiegen. Diese Dienstagabende sind für mich sehr wichtig geworden. Ich war nicht glücklich, bevor wir uns trafen. Jetzt habe ich einen Freund, der in meinen Gedanken ist, der mich gedanklich beschäftigt, auch wenn wir uns nicht sehen.“
Franz rührte sich nicht.
„Franz, und nun denke mal praktisch. Du kannst es gebrauchen. Nimm es als ein kleines Zeichen unserer Freundschaft. Ich bitte darum.“
Mit Tränen in den Augen steckte Franz den Umschlag wieder ein.
An einem der folgenden Dienstage verlief das Zusammensein ganz anders. Franz sah etwas besser aus, und er sagte gleich zur Begrüßung, dass er am Vortag beim Arzt gewesen sei, und er habe neue Medizin bekommen. Es gehe ihm wesentlich besser, und man solle den Krebs auch vergessen, zumindest an diesem Abend.
„Außerdem hatten wir gestern den Geburtstag von Mia gefeiert,“ das Gesicht von Franz war ernst. „Es war natürlich keine richtige Feier. Sie hatte niemanden ihrer früheren Schulfreundinnen eingeladen, sie hatte auch keine Kollegen von der Bank eingeladen – sie will in ein paar Tagen eine Party bei ihrer Freundin feiern, bei einer ihrer Freundinnen. Aber gestern haben wir zumindest angestoßen.“
„Wie alt ist sie geworden?“ wollte Max wissen. Sie hatte den 20. Geburtstag gefeiert.
Und dann sagte Franz: „Ich glaube, Mia schämt sich, in so einer armseligen Bude zu leben.“ Er zuckte mit den Schultern und meinte noch, dass er das verstehe, aber man könne nichts dagegen tun. „Sie ist in unserer Bude nicht richtig zu Hause.“ Franz holte Luft.
„Heinrich und Friedrich waren da, um anzustoßen, Heinrich hatte einen Studienkollegen dabei,“ berichtete Franz. „Der junge Mann war ein lustiger, aufgeschlossener Mann, der hatte für Stimmung gesorgt. Etwas später war auch Heinrichs Freundin gekommen, ein nettes, stilles Mädchen, die Kunst studiert. Ja, und so wurde es doch noch eine nette Party, an der Mia ihren Spaß gehabt hatte.“ Ganz leise fügte er noch hinzu: „Ich hoffe es wenigstens.“
Franz holte tief Luft, dann verzog er das Gesicht ein wenig. Er sagte: „Manchmal denke ich, dass es nicht die Wohnung ist, weshalb Mia und der Kleine so häufig fort sind. Der Kleine ist am liebsten draußen, irgendwo, und streunt herum. Seit dem Unfall ist er oft allein, viel zu oft. Die Freunde von früher scheint es nicht mehr zu geben. Ich weiß überhaupt nicht, was er denkt und was er macht. Und Mia? Ich bin ja so froh, dass sie in die Lehre geht. Sie ist mir auch völlig fremd geworden. Weißt du, Heinrich ist so etwas wie ein ruhender Pol – das sagt man doch.“
„Hast du denn keine Freunde?“ fragte Max, obwohl die Frage nichts mit Mias Geburtstag zu tun hatte. Dann fügte er hinzu: „Du hattest doch sicher auch nette Arbeitskollegen.“
Erst sagte Franz nichts, dann meinte er, dass er seit dem Tod seiner Frau keinerlei Kontakt mehr gehabt hatte. „Und worüber soll ich mit den alten Kollegen reden? Die haben andere Probleme. Viele der älteren Kollegen haben auch keinen Job. Manchmal treffe ich den einen oder anderen in der Arbeitsagentur, rein zufällig. Und der Schiffsbau, der ist krank, da gibt es keine Arbeit mehr.“ Franz schüttelte den Kopf.
„Und was ist mit dir? Hast du keine Freunde mehr?“ fragte Franz zurück, und er schaute Max fragend an.
Max musste kurz auflachen. Er bekannte, dass er in den letzten Jahren zunehmend den Kontakt mit Freunden und Bekannten verloren hatte. Einige von ihnen seien inzwischen gestorben, bei anderen hatte sich das Interesse an einem gegenseitigen Gedankenaustausch gelegt.
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