Ja, er hatte eine Tochter mit dem schönen Namen Elaine gehabt. Sie war bei der Geburt ihrer Tochter Brigitte gestorben. Der Ehemann, ein Herr Wilfried Stöbig, hatte wieder geheiratet und das kleine Mädchen, ein halbes Jahr alt, mit in die neue Ehe eingebracht. Max hatte keine Verbindung zu seiner Enkelin. Und so war er allein in einem großen Haus zurückgeblieben. Er hatte die Haushälterin, die tüchtige Frau Kranig, die seine Frau vor vielen Jahren eingestellt hatte. Außerdem kamen die Putzfrauen regelmäßig, er hatte auch den Gärtner Ferdinand, der den großen Garten pflegte und gelegentlich den Chauffeur spielte, aber damit endete auch fast jeder regelmäßige und geregelte Kontakt zu den Menschen. Natürlich, gelegentlich war er in der Bank, und gelegentlich hatte er auch Telefonate mit Menschen, die früher einmal sehr wichtig gewesen waren. Aber was war jetzt wirklich wichtig? Jetzt war im Grunde nichts mehr wichtig.
Max hatte, das musste er zugeben, ein sehr schönes Zuhause mit einer umfangreichen Bibliothek und einigen wertvollen Gemälden, um die er früher oft beneidet worden war. Die Bibliothek, in der er meistens auch arbeitete, hatte einen schönen Blick hinaus zum Garten, der mehr einem Park als einem Garten glich. Der Nachteil war nur der, dass sein Zuhause von Zeit zu Zeit sehr langweilig wurde. Er nannte es Langeweile, aber vielleicht war es lediglich seine Unrast, die ihn immer noch trieb. Wegen dieser Langeweile oder Unrast machte er die Ausflüge in die Stadt, und meistens dorthin, wo er früher nie hingekommen war. Früher war sein Leben ausgefüllt gewesen. Der Gedanke, sich in St. Pauli oder in St. Georg herumzutreiben, wäre ihm damals nie in den Kopf gekommen. Das hatte sich geändert, denn das, was er sah und hörte, waren spannende Abenteuer. Er sah und hörte eine Welt, die ihm bislang fremd gewesen war. Diese fremde Welt war gewiss nicht schön, aber anregend.
Wenn er nach einem solchen Ausflug, der meistens weit nach Mitternacht endete, wieder nach Hause kam, genoss er sein Zuhause, und die ihm vertraute Langeweile fand er sogar wohltuend schön. Dieser Zustand dauerte für gewöhnlich eine Woche bis zehn Tage an, dann drängte es ihn wieder hinaus. Bei seinen Ausflügen zog er sich sehr durchschnittlich an. Jetzt hatte er seine graue Kombination angezogen, eine graue Hose und einen guten, warmen Pullover, dazu hatte er seinen Regenmantel angezogen. Einen Hut brauchte er nicht. Seine vollen, weißen Haare waren ein wenig unordentlich, das störte ihn jedoch nicht. So gekleidet sah er mit seinen knapp 1.75 m sehr, sehr durchschnittlich aus, das jedenfalls sagte ihm der Spiegel. Tatsächlich, er fiel nicht weiter auf, weder auf der Reeperbahn noch an anderen Plätzen, und er wurde auch nicht belästigt. Frau Kranig hatte ihn einmal gewarnt und gesagt, er solle nachts nicht in den anrüchigen Vierteln von Hamburg herumlaufen, denn man höre und lese immer wieder, dass alte Menschen belästig und ausgeraubt würden. Nun, ihm war das noch nicht passiert, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass es ihm passieren würde.
Die gute Frau Kranig, die übrigens nicht im Hause wohnte, schüttelte regelmäßig den Kopf, wenn er von seinen Ausflügen erzählte. So sehr er Frau Kranig schätzte, er war beim „Sie“ geblieben. Und doch saß er ihr beim Frühstück in der Küche gegenüber und erzählte von seinen Ausflügen, wenn er draußen gewesen war. Mit diesem Erzählen erlebte er das kleine Abenteuer zum zweiten Mal, und er verarbeitete es.
Frau Kranig hielt ihren Chef für ein wenig verrückt, denn sie kannte ihn ganz anders aus früheren Tagen. Damals war er ein hoher Herr gewesen, der sich stets ordentlich kleidete, der mit Wagen und Fahrer zur Arbeit fuhr, der seine Dienstreisen unternahm und der Gäste empfing, alles honorige Leute. Und heute zog er sich sehr gewöhnlich an und machte Ausflüge in Gegenden, die sie für gefährlich und anrüchig hielt. Sie fand das nicht in Ordnung. Aber sie hütete sich, mit anderen Menschen darüber zu reden. Sehr gelegentlich machte sie Andeutungen Ferdinand gegenüber. Dieser Ferdinand war nun schon so viele Jahre ihr Kollege, da konnte man schon mal eine Indiskretion begehen.
Max hatte sein Haus gegen vier Uhr Nachmittag verlassen. Es war inzwischen gegen acht Uhr abends. Max hatte etwas Hunger – nein, Hunger war es nicht, sagte er sich, es war Appetit, angeregt durch die Gerüche aus „seinem“ griechischen Restaurant in einer der „hinteren Straßen“ der Reeperbahn. Dort hatte er inzwischen mehrfach gegessen, und immer hatte es ihm gefallen. Das Restaurant war gewiss nicht das beste Restaurant in dieser Gegend, und das Publikum war sehr gemischt. Vor allem waren dort Osteuropäer zu gast, vielleicht auch einige Araber, so genau wusste er es nicht, und er wollte es auch nicht wissen. Die Musik war nie laut, was er als wohltuend empfand, und die gesamte Inneneinrichtung war einfach und vielleicht nicht immer ganz sauber. Aber es war gemütlich, man saß auf üppigen Polstern, es roch nach Gebratenem und es gab für seinen Geschmack wunderbaren Rotwein. Ihm war bewusst, dass gute Weinkenner die Nase gerümpft hätten, aber ihm schmeckte dieser Wein. Dass das Restaurant auch für Raucher zugänglich war, störte ihn nicht. Dieser Zigarettenrauch trug, so fand er, zur Atmosphäre, die im Lokal herrschte, bei. Er selbst war kein Raucher. In seiner Jugend hatte er mal geraucht, aber das hatte er bald aufgegeben.
Er wollte wie gewohnt das Restaurant betreten, das den hochtrabenden Namen „Akropolis“ trug. Offenbar gibt es viele Restaurants, die den Namen „Akropolis“ trugen, aber das war letztlich gleichgültig, denn der Name war nicht so wichtig. Gerade als er durch die Tür hinein gehen wollte, fiel ihm ein leicht gekrümmter Mann auf der anderen Straßenseite auf. War der Typ besoffen? Das wäre keine Überraschung, denn betrunkene Menschen gehörten in dieser Gegend fast zum Straßenbild, zumindest abends. Max grinste. Als er genauer hinsah, verwischte sich der Eindruck. Nein, ein Betrunkener war das nicht. War der Mann krank? Das mochte sein, dachte sich Max. Die Beleuchtung war nicht besonders gut, und er war neugierig.
Max überquerte nach einigem Zögern die Straße und ging auf den Mann zu. Der Mann mochte vielleicht etwas mehr als 50 Jahre alt sein. Er sah leicht heruntergekommen und abgewirtschaftet aus, war aber sauber. Max hatte einen kurzen Blick auf die schwarzen Schuhe geworfen: sie waren alt, aber geputzt. Der Fremde trug einen schwarz-blauen Anorak, der bereits bessere Tage gesehen hatte, eine graue Hose, und die dunklen, glatten Haare waren windzerzaust. Was Max aber besonders beeindruckte war, dass das Gesicht des Mannes eine gewisse Hoffnungslosigkeit, eine Traurigkeit, ausdrückte. Vielleicht hatte er Schmerzen, denn er hielt sich etwas krumm, oder er hatte Kummer, mit dem er nicht fertig werden konnte..
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Max einem Impuls folgend. Normalerweise sprach er keine Menschen an, vor allem nicht in dieser Gegend, von der gesagt wurde, dass sie gefährlich sein könnte. Dieser Mann war aber nicht gefährlich. Der Mann richtete sich halbwegs auf und schaute Max an. Er war etwas größer als Max, sehr hager, und die großen Augen leuchteten. Max hatte den Eindruck, als könne der Mann Fieber haben. Betrunken war er sicherlich nicht, denn das hätte Max spätestens jetzt gerochen. Der breite Mund wirkte blass, die Nase schien etwas gerötet zu sein.
„Nein, danke,“ sagte der Mann mit einer klaren Stimme, und er versuchte so etwas wie ein Lächeln. „Ich komme zurecht. Besten Dank.“
„Vielleicht,“ entgegnete Max. Er wollte sich abwenden, aber dann kam ihm der Gedanke, dass der Mann, der auf ihn keinen schlechten Eindruck machte, doch Hilfe brauchen könnte.
„Hören Sie die Musik aus dem Restaurant?“ fragte Max, und er fügte hinzu: „Es ist eine wundervolle Melodie, finden Sie nicht?“ Es war ein griechisches Lied, wie nicht anders zu erwarten. Was die Sängerin da mit einer rauchigen Stimme von sich gab, konnte Max nicht verstehen. Aber das Lied gefiel ihm. Es war eine einschmeichelnde Melodie, rhythmisch, und doch nicht aufdringlich. Der Fremde richtete sich vollends auf. Er schaute Max erstaunt an, dann nickte er.
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