Sie stockte, stemmte sich gegen die drängende Hand und wurde einfach weiter in den Gang hineingeschoben, musste dort, zwischen den Verschlägen, den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige Gewölbedecke anzustoßen. Sie streckte vorsichtig die Hände zur Seite, tastete sich im Dämmerlicht rechts und links an den Verschlägen entlang. Der Narbige schob sie weiter, gab ihr keine Möglichkeit, sich auf die Enge im Gang einzustellen, schob sie vier-fünf Schritte in den Gang hinein. Vor ihr stand der andere Büttel, ebenfalls vornüber gebeugt, die Laterne in der Linken. Sie konnte nicht weiter, berührte mit dem Kopf die Decke, zuckte vor – im selben Moment stieß sie der Narbige durch eine schmale Öffnung in den Verschlag auf der Linken. Sie stolperte hinein, schlug mit dem Kopf an die Decke, die sich, der Gewölberundung folgend, allmählich wieder zum Boden neigte, vor ihr eine flache Kiste mit Stroh.
Sie verstand, fuhr herum und konnte gerade noch eine zusammen geknüllte Decke auffangen, die ihr der Narbige zuwarf. In der Öffnung erschien der Ältere, wies mit der Laterne in der Hand auf einen Krug am Boden: „Wasser!“, wies dann seitwärts, die grobe Holzwand entlang auf einen Eimer am Ende des Verschlages: „Wenn´s musst!“ Teilnahmslos trat er dann zurück, verschloss das stabile Gatter und schob ruckend einen schwergängigen Riegel vor.
Unfähig zu jeglicher Reaktion, die Decke fest gegen ihren Leib gepresst, folgte Therese den beiden bei ihren wortlosen Verrichtungen. Sah, bebend und kurzatmig, wie sie sich entfernten, wie sich das Licht immer weiter von ihr entfernte, wie die Finsternis – rasch wie ein Luftzug – aus dem Turm zurück in den Gang gezogen kam. Hörte noch ihre schweren Schritte, die sich auf der Treppe polternd nach oben entfernten und spürte dann, wie alles in ihr einem Erdrutsch gleich zusammenbrach. Ihr Kopf fiel nach hinten. Müde prallten ihre Augen an der Decke dicht über ihr ab, durchmaßen eher kraftlos den finsteren Verschlag, glitten verzweifelt über die rohe Holzwand. Alle Drangsal, alle Verzweiflung, die sich als großer, ihr Inneres ganz ausfüllender Schmerz angesammelt hatten, brachen nun mit Schluchzen, Heulen, Winseln als gewaltiger Ausbruch aus ihr hervor. Zwischendurch fuhr sie herum, riss und rüttelte wild an den rauen Holzstäben des Gatters. Lehnte dann wieder mit Rücken und Kopf am Gatter, willenlos treibend im Strom ihrer Verzweiflung.
Irgendwann ließ sie sich mit nicht enden wollendem Tränenfluss auf den klobigen Hocker vor der Strohkiste fallen, umschlang ihren Körper mit beiden Armen wie im Schmerz, sehnte in ihrer totalen Verlassenheit Mann und Kinder und Lina herbei, bettelte darum wie ein kleines Kind.
Jäh fuhr sie in die Höhe, saß plötzlich stockgerade auf ihrem Hocker, vergaß für einen Moment das Atmen und krallte ihre Hände in Kleid und Oberschenkel. Von der anderen Seite des Ganges, nur drei Schritte von ihr entfernt, schaute sie jemand an. Schaute ebenfalls durch die Stäbe eines Gatters, schweigend und unbeweglich. Einen Moment lang geschah gar nichts. Vom Schreck wie gelähmt drängte sie ihren Blick durch den Tränenvorhang, die Gatterstäbe, das schwache Licht auf dem Gang in das Gesicht auf der anderen Seite. Es war ein müdes Gesicht, das Gesicht einer alten Frau, die sehr weit unten durch das Gatter guckte. Offensichtlich saß oder lag sie auf dem Boden.
Lange, graue Haare zu Strähnen verklebt, fielen dicht am Kopf herunter, rahmten ein ausgemergeltes, faltiges Gesicht ein. Wie ein gefangenes, eingebrochenes Tier saß sie da hinter den Stäben, schaute müde und kraftlos zu ihr herüber.
Langsam und vorsichtig, so als hätte sie Angst, das Wesen ihr gegenüber zu erschrecken, erhob sich Therese von ihrem Hocker, wischte sich mit der flachen Hand, ohne den Blick abzuwenden, die Tränen aus dem Gesicht und trat dicht an die Stäbe, um besser sehen zu können. „Wer bist du?“ in dem Gewölbe klang ihre Stimme dumpf, blieb ohne Antwort. Das Wesen auf der anderen Seite schaute sie regungslos an. „Bitte – sag etwas.“ Nichts! „Kannst du mich verstehen?“
Die müden Augen schlossen sich einen Moment, „Ich kann dich verstehen.“ Flüssig, aber langsam kamen die Worte herüber, getragen von einer Stimme, die vertrocknet krächzte.
„ Was ist mit dir?“ Therese versuchte, durch die Stäbe etwas zu erkennen, musste eine Weile auf die Antwort warten. Deutlich sah sie, wie es in dem Gesicht arbeitete, wie der Mund aufging, sich wieder schloss, so als brächte die Ärmste nicht heraus, was sie schon auf der Zunge hatte. Dann, als müsse es einfach heraus: „Sie - sie haben mich gestern verhört!“
„ Der Pocher?“ fast atemlos schoss sie diese Frage ab und erschrak selbst über ihre ungewollt laute Stimme.
„ Der Pocher und...“ sie kniff die Augen zu, verzog das Gesicht, als plage sie brennender Schmerz. „So etwas dürfte der Herrgott nicht zulassen!“ Aufstöhnend verschwand das Gesicht langsam nach unten.
„ Bist du aus Eichstätt?“ Sie hatte lauter gerufen, wollte das Gesicht aufhalten, hörte ihre Worte als dumpfes Echo. Die Angst war wieder da. Sie zitterte. Wollte noch reden. Nur nicht schweigen und grübeln!
„ Ich bin – die Raußbacher!“ Die Antwort kam von ganz unten, kam gequält mit einer langen Pause.
„ Du bist die Raußbacher? Mein Gott!“ Bestürzt starrte Therese in den anderen Verschlag hinüber, konnte jedoch nichts mehr erkennen.
Sie kannte die Raußbacher gut, die unten am Fluss eine alte Kate bewohnte. Jeder kannte die alte Raußbacher, die etwas derb im Ton, sonst aber sehr gutherzig war und gefärbte Garne sowie Wässerchen gegen Mundfäule verkaufte. Diese hier war kaum noch als Raußbacher zu erkennen.
Therese zitterte, spürte plötzlich, dass sie einer dringenden Notwendigkeit gehorchen musste. Dabei: „Was haben sie mit dir gemacht?“ Sie erhielt keine Antwort, kein Laut unterbrach die Stille. „Sag doch etwas!“ Vergebens! Das Schweigen drückte sie wie etwas Großes, Schweres aber Unbekanntes nieder auf den Hocker. Gedankenverloren starrte sie gegen die dunkle Holzwand, merkte nicht wie Stunde um Stunde verrann.
Ein Geräusch ließ sie hochfahren.
Irgendwann in der Nacht hatte sie sich in die stinkende Decke gehüllt, in die feuchte Strohkiste gelegt und war eingeschlafen. Jetzt hörte sie deutlich Schritte auf der Treppe, rasche Schritte, keine Stiefel, aber etwas klapperte. Ein Lichtschimmer fiel in den Gang, huschte über das raue Holzgatter auf der anderen Seite des Ganges, sprang dann über die ungleichmäßigen Steine der Gewölbedecke, sprang zurück, fiel mal auf den buckeligen Lehmboden, wurde kräftiger und stand dann endlich still, aber vor dem Gang. Therese zwängte sich ganz in die Ecke zwischen Holzwand und Gatter, versuchte verzweifelt die Quelle des Lichtes zu erkennen, aber die Türhölzer versperrten ihr die Sicht. Unvermittelt begann das Licht wieder zu wandern, flackerte in den Gang hinein, zog mit dem Schein hundsgemeine Hoffnung hinter sich her. Dann kam sie herangewatschelt. Therese erkannte sie sofort am Gang und an den Körperumrissen, die sich deutlich vor dem Licht abhoben: die Jaschke! Klein, aber überaus füllig, schlampig und zänkisch, so kannte sie wohl jeder in der Stadt. Sie blieb am Verschlag gegenüber stehen, schaute kurz suchend hinein und öffnete dann dicht über dem Boden eine Klappe, wobei sie sich, die Füße auseinandergestellt, vornüberbeugen musste. Ihr Kittel rutschte um einiges nach oben, gab den Blick frei auf ein paar kräftige, weiße Waden und deutlich schmuddelige Fesseln und Füße. Dick aufgequollen spannten sie die Riemen der ausgetretenen Latschen.
„ Den Eima, Raußbacha!“ Ihre Stimme klang stumpf, gewöhnlich, als wäre sie ihr zu schwer! Einen Augenblick blieb sie so vornüber gebeugt stehen, wartete. Die Öffnung in der Verschlagwand blieb leer, kein Lebenszeichen auf der anderen Seite des Verschlages. „Dann eben nicht!“ Sie schob eine Holzschüssel durch die Luke, schloss diese und watschelte zurück zum Licht, ohne zur Seite zu sehen.
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