„Was redet ihr da? Wenn ihr die Umwälzungen in der Kirche meint, so lagen und liegen die Ursachen doch in erster Linie in der Kirche selbst begründet. Hätte sie all diejenigen auf die Scheiterhaufen gebunden, die mit großem Ernst und unnachsichtig vom Volk den letzten Groschen, Kasteiung und größte Gottesfurcht verlangten, selbst aber in einem Übermaße Schlemmerei und Hurerei betrieben, die Scheiterhaufen hätten ein Jahrhundert gebrannt. Danach hätte die Kirche ihren Frieden gehabt. Der „Böse“, von dem ihr redet, der sucht sich für sein Werk sicher nicht die alten, wirklich gottesfürchtigen Weiber wie etwa die Raußbacher oder die Lisbeth, das glaubt ihr doch selbst nicht! Dessen Helfer findet die Inquisition am ehesten hinter den verschlossenen Klostertoren und den Toren der Bischofpaläste, hinter denen auf Kosten der Armen geprasst und geschwelgt wird und wo am wenigsten Gottesfurcht herrscht. Dort müsste sie suchen, nicht bei den gichtgeplagten alten Weibern. So! Und dann… Ich bin noch nicht fertig, lasst jetzt mich ausreden!“
Pater Gregor, der sich mit gequältem Gesicht vorgebeugt und zu einer Entgegnung angesetzt hatte, fuhr geradezu verunsichert ein Stück zurück.
„Noch etwas: Wo gibt es das, dass jemand, der einer Schuld bezichtigt wird, nur auf Grund der Beschuldigung selbst und ohne jede Möglichkeit der Verteidigung zu Tode gequält werden kann? Ihr habt es selbst in meinem Prozess erlebt: Ich war schon verurteilt bevor der Prozess überhaupt begann.“ Sie setzte sich wieder zurück an die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute den Pater mit leicht schräg gelegtem Kopf an. Immer noch glitzerte es in ihren Augen.
Einen Moment sagte niemand etwas.
Darf ich auch mal was fragen?“ Stefan hatte die Unterarme auf den Tisch gelegt und den Kopf in beide Hände gestützt.
„Ah, Stefan! Wir haben schon gedacht, du wärest am Schlafen!“ Therese nahm sich einen Kanten Brot, um etwas davon abzubrechen.
Stefan ganz ruhig, „Ja, habe ich auch schon! Aber hier hat jemand so fürchterlich schrill herumgekeift, da kann man nicht schlafen!“
Therese zog eine Grimasse, „Du kleiner Mistkerl, pass bloß auf!“ und tat so, als suchte sie einen Gegenstand, mit dem sie nach ihm werfen könne. Sie streckte den Kopf auf langem Hals vor, machte große Augen: „Was wolltest du fragen?“
„Ihr habt vorhin von dieser alten Frau gesprochen, die so schwer verletzt war. Diese beiden Kerle haben die doch wieder abgeholt, wohin haben sie die gebracht? Die lebte doch noch!“
Therese holte tief Luft, lehnte sich dabei langsam wieder an die Wand zurück, „Die lebte noch, irgendwie ja, Stefan. Aber die haben es fertig gebracht, diese Arme noch einmal zu verhören!“
„Was? Das war doch bestimmt gar nicht mehr möglich! Was sollte die denn noch sagen?“ Angewidert blickte Franz zum Pater, dessen Blick versonnen geradeaus an der Hauswand ruhte, zu Therese, die ruhig mit dem Kopf nickte
„Die haben sie stundenlang verhört! Stundenlang!“ Sie blickte ihn an, nickte ernst, „Solange, bis die Arme endlich gesagt hat, was sie hören wollten.“
„Was sie hören wollten? Und dann?“
„Nichts ‚dann‘! Die haben sie wieder runter geschleppt und vermutlich einfach in ihrer Kiste sterben lassen.“ Sie wandte sich ab, verschränkte wieder die Arme über der Brust, zog sich dabei kurz zusammen, als würde sie frieren, „Und dann war ich dran!“
„Du bist gefoltert worden?“ Franz sagte das bestürzt, fast leise, und er musste einen Moment warten, bevor er eine Antwort bekam.
Therese blickte auf den Tisch, still, sinnend, „Nicht so wie die Raußbacher! Aber auf eine bestimmte Weise doch!“...
Das war etwas, was sich ganz fest in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, dieser Augenblick, als sich der Narbige damals von der Raußbacher abwandte und sich dann in ihr Verließ zwängte. Sein entstelltes Gesicht war aufgedunsen, wirkte erregt, gewalttätig, trieb ihre Angst bis zum Überschlag. Ohne ein Wort, ohne einen Laut von sich zu geben, griff er sie einfach, so wie man nach einer widerstrebenden Ziege greift, zerrte sie aus ihrem Verließ heraus, durch den Gang, schob sie die Treppe hinauf – rasch, gefühllos. Schob sie oben durch das Turmrund, und endlich durch die tief in der Wand liegende Tür auf einen kurzen, dunklen Gang. Direkt vor ihr sickerte aus einem Türspalt etwas Licht und mit dem Licht Stimmen und einzelne Gesprächsfetzen zu ihr ins Dunkle. Der Narbige hielt einen Augenblick inne, wartete auf den Älteren, der schnaubend hinter ihnen herkam. Dann drängte die Hand auf ihrem Rücken sie wieder vorwärts gegen die Tür. Unwillkürlich schob sie die Tür mit beiden Händen auf, ließ das aufgestaute Licht auf den Gang hinaus, während die Stimmen schlagartig aufhörten zu sickern und verstummten. Dafür guckten ihr aus dem Raum fünf Augenpaare abschätzend, teils verächtlich aus strengen und selbstgefälligen Gesichtern entgegen, erfassten jeden ihrer verhaltenen Schritte, mit denen sie vorwärts in den Raum geschoben wurde.
Ziemlich genau in der Mitte des Raumes stellte sie der Narbige endlich ab, den Gesichtern gegenüber.
Sehr vornehm gekleidet saßen diese, auf ihren Stühlen bequem zurückgelehnt, hinter einem großen, grünverhangenen Tisch, der, bis auf schmale Durchgänge an den Seiten, über die gesamte Raumbreite von einer Wand zur anderen reichte.
Für einen Moment war es still im Raum, und sie fühlte sich unter den Blicken dieser Männer plötzlich klein, schmutzig, minderwertig und hilflos verlassen. Stand da mit hängenden Armen, wagte nicht aufzusehen, allenfalls aus den Augenwinkeln, wartete einfach und zitterte.
Der riesige, grünverhangene Tisch, vor dem sie stand, war fast leer. Nur auf dem Platz direkt vor ihr lagen drei einzelne Blätter nebeneinander, und sie konnte erkennen, dass alle drei Blätter dicht beschrieben waren.
Dahinter, auf der anderen Seite des Tisches, bewegte sich einer der Männer nach vorn, griff nach den Blättern. Sie folgte unter den Augenbrauen hervorschauend seiner Bewegung, versuchte Anzeichen für das zu finden, was nun auf sie zukommen würde. Der Mann, der mindestens ihr Vater hätte sein können, wirkte milde auf sie, mit seinen weißen Haaren, seinem vollen, weißen Bart und dem großen, bis auf die Schultern reichenden Spitzenkragen.
Als er unvermittelt von seinen Papieren aufschaute, war ihr schwacher Hoffnungsfunke im Nu verglüht. Eisig und unerbittlich fuhren seine Augen rasch und prüfend über sie hinweg. Sie empfand Atemnot! Vielleicht doppelt so groß wie eine normale Stube schien ihr der Raum plötzlich zu eng, wollte sie mit seinen dunklen Holzwänden und der niedrigen, inzwischen rußgeschwärzten Decke erdrücken. Die ranzig riechenden Öllampen an der Wand hinter dem Tisch verbrauchten die Luft, die ihr zunehmend fehlte. Sie zog die Schultern hoch, atmete tief durch, wäre am liebsten losgerannt, aber sie konnte die herb-scharfen Ausdünstungen des Narbigen riechen, er stand irgendwo dicht hinter ihr.
„ Ihr seid die Therese Driesner vom Köblerhof!“
Sie zuckte zusammen, sog aufgeregt die Luft tief ein und schaute in die eisigen Augen ihres Gegenübers, das war keine Frage, eher eine Feststellung! Ihre Hände suchten Halt im sperrigen Gewebe ihres Kittels, ballten und knüllten dort den Stoff. Ihre Stimme versagte, war unfähig den trockenen Hals und Mund zu verlassen.
„ Antwortet, wenn ihr gefragt werdet!“ Die Augenbrauen des Weißhaarigen zuckten nach oben, er blitzte sie drohend an und schnitt jetzt mit geradezu metallener Stimme die Luft in unterschiedlich dicke Scheiben.
„ Ja!“ Sie beeilte sich zu antworten; ihre Stimme klang spröde und fremd.
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