Gleich darauf erschien sie wieder im Gang, verdrängte für einen Moment das Licht, blieb vor Therese stehen, von ihr getrennt durch das Holzgitter. Die eine Hand auf die ausladende Hüfte gestützt, in der anderen eine Holzschüssel und ein Brotkanten, betrachtete sie Therese aus ihren kleinen, viel zu weit auseinander stehenden Mausaugen. Wie dunkle Löcher wirkten sie in dem breiten, flächigen Gesicht, blickten ruhig, abschätzend von oben nach unten.
Langsam, etwa so wie eine zähe Flüssigkeit verläuft, verzog sich ihr Gesicht zu einem schmierigen Grinsen, „Guck mal an! Das ist mal was anderes als auf´m Köblerhof – oder?“ und etwas leiser, „Aber brauchst ja nicht lange hier zu bleiben!“ Ihr Grinsen war unerträglich gemein.
„ Jaschke, du kennst mich! Ich habe deiner Schwester bei ihren Kindern geholfen! Du weißt, dass ich nichts verbrochen habe. Jaschke lass mich raus hier! Hörst du?“ Therese stand dicht am Gatter, streckte eine Hand durch die Stäbe – bittend.
Die Jaschke verlagerte ihr Gewicht etwas rückenlastig. Das Grinsen wurde noch um eine Spur breiter, niederträchtiger „So ist´s recht: Bettle ruhig, solange du´s noch kannst! – Einen Teufel werd ich tun!“ Bückte sich, öffnete die Klappe, die Therese noch gar nicht wahrgenommen hatte, und schob die Holzschüssel mitsamt Brot in den Verschlag. Klappte die Luke mit einem Fußtritt wieder zu und verschwand zum Licht, hocherhobenen Hauptes, mit wackelnden Hüften.
Einen Moment später war es wieder finster. Auf der Treppe quälte sich die Jaschke nach oben.
Therese schaute in den Verschlag auf der anderen Seite des Ganges, horchte. Es war absolut still!
„ Raußbacher!“ Sie presste ihr Gesicht nah an das Holzgitter der Tür, horchte angestrengt. Es blieb still, keine Reaktion. Und dann war es das Entsetzen, das sie packte, das sie am Gatter rütteln ließ, sie so laut rufen ließ, dass sie vom Widerhall aus dem Turminneren zurückfuhr: „Raußbacher sag was!“ Stille! Dann, endlich, ein mattes Stöhnen. Stroh raschelte und sie konnte auf der anderen Seite eine Bewegung erkennen. „Raußbacher komm hoch, du musst was essen!“ gespannt schaute sie hinüber, angelte sich die eigene Holzschüssel, die noch unberührt auf der Erde stand, roch daran: Erbsebrei, das Brot lag darin, weichte langsam auf. Unendlich schwerfällig kam auf der anderen Seite der Kopf hoch und wieder schauten sie die Augen nur kraftlos und unverwandt an.
Therese schauderte, hielt die Holzschüssel zitternd mit beiden Händen, „Raußbacher, lass mich nicht alleine hier unten! Iss was, sonst schaffen wir es nicht!“ Die Alte auf der anderen Seite schloss müde die Augen, schüttelte schwach den Kopf, um gleich darauf mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Turm zu schielen. Ungeheure Angst verzerrte das bisher so leblos wirkende Gesicht, presste tiefe Falten in die Stirn, zerrte den Mund weit auf.
Mit Grausen verfolgte Therese die Veränderung im Gesicht der anderen, stand wie versteinert, hörte die schweren Schritte auf der Treppe, auf dem Gang, vermochte kaum noch die Schüssel zu halten.
Wieder war es der Ältere, der den Verschlag auf der anderen Seite öffnete, gleichgültig, fast schläfrig. Der Narbige zwängte sich durch die Tür hinein in den Verschlag, bückte sich nach rechts und zog dann etwas Schweres vom Boden hoch. Grässliche, nie zuvor gehörte menschliche Laute, die vermutlich als verzweifelte Schreie gesandt wurden, aber eher wie unendlich in die Länge gezogenes Ächzen klangen, drohten Therese zu zerreißen, ließen sie die Schüssel in ihren Händen vergessen, um sich die Ohren zuzuhalten, während der Erbsebrei unter der Tür her auf den Gang kroch.
Langsam, geradezu vorsichtig zog der Narbige die Raußbacher auf den Gang, versuchte sie dort aufzurichten. Therese presste sich kerzengerade gegen die Holzwand im Rücken, schloss die Augen, wandte den Kopf hin und her und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit: Beide Hände der Raußbacher waren wohl zu doppelter Größe angeschwollen, schauten unförmig als dunkle, verkrustete Klumpen aus den Ärmeln ihres dünnen Leinengewandes. Sie sackte zusammen, wimmernd, das Gesicht qualvoll verzerrt. Der Narbige hielt sie fest, griff ihr unter beiden Armen durch und hob sie etwas hoch, so dass der Ältere ihre Knie greifen konnte. Als der sie anhob rutschte der Leinenkittel hoch. Therese sah das Bein, schaute rasch zur Seite, wollte nicht hinsehen und konnte doch nicht anders: Ein fast schwarzes Bein ragte unter dem Kittel hervor. Angeschwollen, als wolle es gleich platzen, ließ es sich nicht mehr knicken. Ragte dem Alten unter dem Arm durch. Sie schleppten sie aus dem Gang, als wäre sie schon tot.
Therese suchte den Eimer, musste sich übergeben, schleppte sich auf allen Vieren zur Strohkiste, ließ sich einfach hineinfallen, starrte mit weit geöffneten Augen an die Gewölbedecke, unfähig, zu weinen, zu denken, eigentlich zu allem.
Nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Sie wagte nicht weiter zu denken, schaute nur nach oben, immer nach oben, während sie am ganzen Körper zitterte. ...
Mit lautem, trockenen Knacken flog ein großer Funken aus dem Feuer in die Stille, ließ sie zusammenzucken. Franz drückte sich langsam von der Bank hoch, ging um den Tisch herum und blieb dann ein wenig abseits stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken zur Hauswand.
„Die Raußbacher wurde damals am Tag nach eurer Flucht oben auf dem Berg verbrannt!“ Sinnend erinnerte sich der Pater, schaute dabei abwesend auf den Tisch.
„Davon wird sie nichts mehr gemerkt haben!“ Es war nur eine leise Bewegung, mit der sie den Kopf schüttelte.
„Wusstet ihr, dass es im Turm so zugeht? Wusstet ihr von diesen Dingen?“ Entsetzen und Fassungslosigkeit schwangen mit in dieser Frage, die Franz in die Dunkelheit hinaussprach.
Der Pater vergewisserte sich nicht; er wusste, dass er gemeint war, „Franz, heute weiß ich es, damals wusste ich es nicht! Aber ich hätte es wissen können, es war gängige Praxis, so zu verfahren. Die Richter und Scharfrichter handelten tatsächlich nach den entsprechenden Reichsgesetzen und nach dem ´Malleus maleficarum´. Als angehender Jesuit hätte ich mich damals schon damit beschäftigen können. Ich habe es erst getan, nachdem ich selbst betroffen war – leider!“
Franz wandte sich ihm zu, indem er über die Schulter auf den Sitzenden hinunterschaute, „Was ist dieser „Malleus ...?“ Aufschauend der Pater „malleficarum“!
Therese führte kurzerhand weiter, was der Pater so vielleicht doch nicht formuliert hätte: „Es ist der „Hexenhammer“, das verfluchte Erklärungs- und Regelwerk, in dem die Kirche festgelegt hat, woran Zauber und Hexerei zu erkennen sind. Es beschreibt genau, wie man ihnen beikommen kann und mit welchen Mittel vor allem die Inquisition diese bekämpfen soll. Ein schauderhaftes Werk. Das sollte unbedingt verbrannt werden!“
Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Pater sich vorsichtig zu einer Entgegnung durchrang „Ihr solltet nicht so hart mit der Kirche ins Gericht gehen! Bei all den Umwälzungen und Verwirrungen des letzten Jahrhunderts musste sie etwas tun. Und wer will sagen… Bitte lasst mich ausreden!“ Er hob beschwichtigend seine Hand, stoppte so Thereses sehr wahrscheinliche Entrüstung, „Wer will sagen, ob nicht doch der Böse hier und da seine Hand im Spiel hat, um Gottes Kirche zu vernichten. Ob er sich dabei nicht doch braver, gottesfürchtiger Menschen bedient. Und wenn das so ist – wie soll die Kirche ihm dann beikommen, wenn nicht über diese Menschen. Es gibt den Satan! Das steht außer Frage!“
„Mein lieber Pater!“ Selbst das schwache Licht verbarg Thereses Erregung nicht. Bis auf die äußerste Kante der Bank war sie vorgerutscht, stützte sich vornüber gebeugt mit beiden Händen auf dem Tisch ab, und wie schon einmal am Nachmittag sprühten ihre Augen Funken, als wollte sie die Wald anzünden. Ihr vollkommen zugewandt, entgeistert, mit geöffnetem Mund schaute Franz sie an, erkannte sie für einen Augenblick nicht!
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