„Und?“ Als er sich ihr zuwandte, sie einen Augenblick nur ruhig ansah, wusste sie um die Antwort.
„Das Kloster ist 34 überfallen und geplündert worden und 35 hat die Pest dort gewütet. Der Pater ist später am Kloster gewesen. Er hat niemanden gefunden, der ihm sagen konnte, was aus Anna geworden ist. Vor drei Jahren bin ich selbst drüben gewesen; es gibt keine Spur von ihr.“ Er wandte sich wieder von ihr ab, „Tatsache ist, dass viele Nonnen des Klosters an der Pest gestorben sind – ebenso wie viele Menschen im Umland. Es tut mir leid, dass ich dir nichts anderes sagen kann.“ Ohne sich ihr zuzuwenden sagte er dies, blickte einfach weiter geradeaus, während sie ihn unbewegt ansah.
Stefan räusperte sich und stand unbeholfen auf von seinem wackeligen Holzklotz, um nach dem Feuer zu sehen.
„Wenn man sich vorstellt, dass das, was sie mit uns gemacht haben, fast normal ist in diesen Zeiten. Da draußen geschehen jeden Tag Dinge, die mag man gar nicht glauben, wenn man sie nicht erlebt hat!“
„Du hast sie erlebt?“
Gedankenverloren nickte sie vor sich hin, „Ja, so einige, Franz!“ Sie schaute den Funken nach, die wild aufwirbelten als Stefan einige Holzscheite auf die Glut schichtete. Unvermittelt dann: „Sei froh, dass du damals den Karren nicht mehr erreicht hast, es ist dir einiges erspart geblieben!“
„Auf der Fahrt? Warum?“ Er fragte ohne den Blick aus dem Feuer zu nehmen, wandte sich ihr nicht zu.
„Du hättest mit ansehen müssen, wie deine Mutter auf der ganzen Fahrt durch die Stadt beschimpft und sogar bespuckt wurde. Kannst du dich noch an den Schuhmacher Beuteler erinnern? – Der ist dem Wagen durch die ganze Stadt gefolgt, hat mich ausgelacht und beschimpft, ebenso wie die Wiesner! Alle ihre Kinder habe ich blitzsauber geholt, und dann rennt die keifend hinter dem Wagen her.“ Sie beugte sich rasch über den Tisch und nahm ein bereits abgebrochenes Stück Brot. Stefan hatte gerade die Hand danach ausgestreckt. Und während er sich mit dem anderen Arm durch das erhitzte Gesicht und über die tränenden Augen wischte, grabbelte er suchend auf dem Tisch herum, unterbrach jäh sein Wischen und Scheuern und blickte Therese im nächsten Augenblick schelmisch von unten herauf an. Die schob sich betont langsam eine kleine Ecke Brot in den Mund, lediglich in ihren Augenwinkeln blitzte es ein wenig. „Die Burschen des Ortes sind damals schreiend und pfeifend von der Altmühl her durch den ganzen Ort hinter und neben dem Karren hergelaufen. Es war, als hätte ich am Pranger gestanden – und ich hatte nichts getan.“
„Die Büttel, der Wallert und der andere, was haben die gemacht? Immerhin mussten die dich doch unversehrt zum Turm bringen. Die hätten doch nur schneller zu fahren brauchen.“
„Ich glaube, die haben das genossen! Gar nicht bewusst und ganz sicher auch, ohne sich abzusprechen. Sie haben es ganz einfach aus der Situation heraus genossen! Sind langsamer gefahren, damit die sonst so lieben Mitmenschen, die überall an der Straße und in den Hauseingängen standen und in den Fenstern und Luken lagen, sich an meiner Angst, an meinem Entsetzen weiden konnten. Ich wusste schon während dieser Fahrt genau, dass ich verloren war. Wer einmal so durch die Stadt gefahren worden ist, der gehört nicht mehr dazu, den kann man nicht mehr zurück unter die Menschen schicken. ...
Ein kleiner Junge, gerade so groß, dass er über die Wagenkante oberhalb des Rades schauen konnte, rannte an der Hand seiner Schwester neben dem Wagen her, die kleine Hand voller loser Steinchen. Als er in einem günstigen Moment nach ihr warf, trafen sie einige der Steinchen ins Gesicht, was mit lautem Johlen und Pfeifen bejubelt wurde.
Gleich darauf verließ der Karren durch das obere Tor die Stadt. Sie blickte auf die dicken Mauern, an denen sie vorbeifuhren, auf die zwei Frauen, die, mehrere Kinder eilig nachziehend, unbedingt gleichzeitig mit dem Karren das Tor passieren mussten. Und dann, als der Karren nach links schwenkte und sie sich vorsichtig umwandte, sah sie das Haus des Scharfrichters! Schräg gegenüber dem Stadttor lag es so, als wolle sein Bewohner stets sehen, wer da herangekarrt wurde. Schritt für Schritt zog das Pferd sie näher an das Haus heran, geriet dieses deutlicher in ihr Blickfeld. Sie kannte das Haus, war unzählige Male hier vorbei gegangen, heute wirkte es dunkel, bedrohlich ruhig, als würde es auf sie warten.
Ebenso der Platz, den sie überquerten. Er war ihr von unzähligen Gängen her nur zu bekannt. Von ihrem Sünderkarren herunter, angebunden und gedemütigt, fühlte sie sich jetzt fremd hier, erschauerte vor dem Turm, der allmählich grau und massig neben ihr auftauchte. Verstand auch nicht, warum all die Menschen dem Wagen ebenso gefolgt waren wie die Burschen, die sie den ganzen Weg durch die Stadt geärgert und gepeinigt hatten.
Als der Karren endlich direkt vor dem Turm anhielt, blickte sie wie ein gefangenes Tier unsicher und verängstigt herunter. Sah um sich herum hastende Bewegungen, sah die sich rasch bildende Runde. Sah endlich diese Menschen, die ihr alle so bekannt waren und die jetzt in einem schweigenden Kreis um den Karren neugierig hin und her schwankten. Schlagartig übertrug sich etwas auf sie, was sie nicht erklären konnte, aber sie spürte, dass eine gewisse Spannung in der Luft lag. Auf irgendetwas wartete diese Meute, irgendetwas sollte mit ihr geschehen.
Ihre Angst steigerte sich zur Panik, ließ sie herumfahren als sie spürte, dass sich jemand hinter ihr bewegte. Einer der Büttel war zu ihr nach hinten auf den Karren gestiegen und machte sich an ihren Füßen zu schaffen. Ein bulliger Kerl, auf dessen strohigen, roten Haare sie angewidert hinabsah. Ihr Blick hetzte zurück auf die Umgebenden, raste an den gespannten, geifernden Gesichtern entlang, die sie doch alle kannte und schrak zurück, als sich der Rothaarige vor ihr erhob: Sie schaute in ein verwüstetes und entstelltes Gesicht. Von der Nase bis zum Ohr, dort wo sich normalerweise der Jochbogen erhob, fehlte die linke Gesichtshälfte. Geblieben war unterhalb der Stirn eine einzige, flach zum Ohr hin fliehende Narbe.
„ Runter!“ er wies mit dem Kinn auf die Wagenseite, die ihm gegenüber lag und auf der sie über das Rad hinunter steigen sollte. Der andere Büttel, etwas älter als der Narbige, saß noch immer wie teilnahmslos auf dem Bock, während sich der Soldat mit der Turmtür beschäftigte.
Verzweifelt versuchte sie diese winzige Chance, die nur sie als solche sah, zu nutzen. Spürte nicht, wie die Spannung der Umstehenden einem Höhepunkt zustrebte, kletterte ruhig über Rad und Radnarbe hinunter. Dann, mit beiden Füßen auf dem Boden, raffte sie hastig den Strick mit ihren auf dem Rücken gefesselten Händen – der Narbige stand immer noch auf dem Karren – und rannte einfach los, das Strickende hinter sich herziehend.
Blind rannte sie gegen die feixende, gaffende Meute an, hinter ihr sprang jemand plump auf den Boden, und vor ihr öffnete sich der Kreis für einen winzigen Durchschlupf, starrten ihr fiebrig glänzende Augen entgegen. Sie beugte sich vor, glaubte die Lücke schon erreicht zu haben, hindurch schlüpfen zu können, als sie hinter sich den älteren Büttel ächzen hörte: „Hier bleibst! Verdammte Hex!“ Ein fürchterlicher Ruck am Seil riss ihre Arme nach hinten, riss sie zu Boden und jagte ihr den ersten brennenden Schmerz in die Schultergelenke. Ihren eigenen Schrei nahm sie nicht wahr, weil sie im nächsten Augenblick roh und kraftvoll an den Haaren vom Boden hochgezogen wurde. Und während sie nun der eine Büttel wie eine Ziege unnachgiebig am Strick hinter sich herzog, zerrte der Narbige rüde an ihren Haaren, bog ihren Kopf weit in die Nacken.
Die Meute um sie herum hatte endlich ihr Schauspiel, johlte und klatschte. ...
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