Schlagartig erkannte Therese, während ihr Tränen über das Gesicht liefen, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie wischte sich die Tränen ab, ließ Lisbeth nicht aus den Augen, während sie langsam um das Bett herumging und ihr Bündel zusammenrollte – so wie es war, ohne es zu reinigen. Lisbeth stand unverändert an der Wand, nur in ihren Augen schien es plötzlich zu brennen. Therese griff nach der Lampe – Lisbeth unentwegt im Blick – öffnete langsam, ganz langsam die Tür. Und genau in dem Moment, als sie durch den schmalen Spalt hinaus auf den dunklen Flur schlüpfte, kreischte Lisbeth mit sich überschlagender Stimme los: „Josef, Josef! Sie hat Christine umgebracht! Josef pass auf! – Josef sie kommt runter! Sie ist eine Hex, eine Hex! Josef pass auf, sie hat Christine und das Kind umgebracht! Josef!“
Sie stolperte vom Gekreische getrieben die Treppe hinunter, rutschte auf dem herumliegenden Kleidungsstück aus, fiel auf ihr Hinterteil, hielt krampfhaft die Lampe hoch. Weiter! Hinaus auf den Hof. Josef war nicht zu sehen. Sie rief nach ihm, zaghaft! – Oben kreischte Lisbeth! – Rief ihn laut, angstvoll, – nichts! Lisbeths Kreischen ging in ein hohes Klagen über, hing wie der Schrei eines verletzten Tieres in der Dunkelheit. Sie ließ die Laterne einfach stehen, kannte den Weg auch so und rannte los. Nahm die Abkürzung über die Wiese und den Abhang hinunter, an dem sonst die Kinder spielten. Sie keuchte, Zweige schlugen ihr ins Gesicht und hinter ihr überschlug sich in grausigen Tonhöhen immer noch Lisbeths Stimme.
Im Hause stand Lina auf der Diele.
Groß, hager, im langen weißen Nachthemd, die dunklen Haare wie immer zu einem dicken Zopf geflochten, stand sie mit der alten Öllampe mitten im fast dunklen Raum und wartete auf sie. Forschend, jede Kleinigkeit wahrnehmend, musterte sie Therese, während diese schweratmend mit dem Rücken an der geschlossenen Dielentüre lehnte; in ihren Augen spiegelte sich die Angst.
Lina erfasste die Situation, verstand ohne Worte, legt ihr beruhigend den sehnigen, von der täglichen Arbeit kräftigen Arm um die Schulter und führte sie von der Tür weg in den Raum – wortlos. Wie ein kleines Kind setzte sie die Weinende auf den Melkhocker, der zusammen mit den Milcheimern schon für den morgendlichen Einsatz an der Wand bereitstand. Sie holte Wasser vom Brunnen, half ihr beim Reinigen, redete ruhig und tröstend auf sie ein. Lina!
Seitdem ihr Sohn im Krieg war, führte Lina, gemeinsam mit Therese, sicher und unbeirrbar den Köblerhof. Sie verstanden und ergänzten sich gut. Die Alte mit ihrer Selbstsicherheit, Erfahrung und Abgeklärtheit, und die Junge mit ihrer Kraft und Lebensfreude. Dennoch: In Momenten wie diesem fehlte ihnen ihr Sohn Johannes. Er war kurz entschlossen, hatte ein zupackendes Naturell, hätte hier sicher eine typisch männliche Lösung gesucht. Lina kannte das Leben, spürte deutlich die Bedrohung, in der Therese schwebte und wusste, dass sie ihr hier nicht helfen konnte. Aber sie wusste auch, dass etwas geschehen musste.
Behutsam, ohne die Angst noch zu schüren, redete sie auf Therese ein, versuchte im Wechsel sie zu beruhigen, dann aber zur baldigen Flucht zu überreden. Zuerst nach Buchenhüll zum Bruder, mit seiner Hilfe dann weiter. Unmöglich! Die Kinder! Therese dachte an ihre Kinder: Flucht! Wie sollte das gehen, mit zwei kleinen Kindern? Und Wohin? – Sie wehrte ab, sah keinen Ausweg.
Zunächst noch grau und unauffällig drängte sich irgendwann der neue Tag durch die Fenster in die Stube. Die Gewissheit, dass mit dem neu beginnenden Tag die nächtliche Katastrophe zwangsläufig einer amtlichen Klärung zutreiben müsse, ließ Therese schließlich einlenken. Sie entschloss sich, Linas Rat zu folgen und zunächst – vorsorglich – für eine Woche nach Buchenhüll zum Bruder zu gehen. Die Kinder sollten solange bei Lina auf dem Hof bleiben, auch um den Eindruck einer Flucht zu vermeiden. Sollte sich dann in den nächsten Tagen eine Gefahr abzeichnen, wollte Lina mit den Kindern nach Buchenhüll folgen. Dort könne man dann sehen, wie es weitergehen sollte.
5. Ausgeliefert – im Turm
Zunächst schien es so, als seien ihre Sorgen und Vorkehrungen unbegründet. Christine wurde beerdigt, und ganz selbstverständlich folgte auch Lina dem Sarg. Lisbeth, so hieß es hinter vorgehaltener Hand, sei unversehens wirr im Kopf geworden und musste zu Hause bleiben. Mehr nicht! Alles hatte offensichtlich seine Ordnung, schien zu sein, wie es unter Nachbarn immer war.
Therese kehrte also mit dem Gefühl zurück, eine bedrohliche Situation noch einmal unbeschadet überstanden zu haben. Aber schon einen Tag später wurden die angstvollen Sorgen und Befürchtungen grausige Wirklichkeit.
Therese war gerade dabei, zusammen mit ihrem Sohn die wurmstichigen und morschen Trittstangen einer alten Leiter auszuwechseln, als unversehens ein Soldat auf den Hof geritten kam. Hinter ihm, noch ein ganzes Stück entfernt, ruckelte und polterte ein kleiner, einspännig gezogener Wagen den Berg hinauf: der „Sünderkarren“! Jeder im Ort kannte ihn, jedem grauste davor.
Der Soldat machte sich nicht die Mühe, von seinem Pferd abzusteigen, sondern ritt quer über den Hof auf Therese zu, die sich ahnungsvoll aufgerichtet hatte. „ Du bist Therese Driesner? “ fragte er und fuhr gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten „ Du wirst auf Beschluss des bischöflichen hohen Gerichtes arretiert! “ Schon diese Anredeform war eine Unverschämtheit und machte Therese unvermittelt klar, dass man in ihr keine achtenswerte Person mehr sah. Der Sünderkarren, ein zweirädriger Karren, auf dessen Ladefläche nichts anderes, als eine einfache Holzbank mit einem Fußschloss stand, kam holpernd hinter dem großen Holunderbusch her auf den Hof gefahren. Plötzlich wurde es auf dem kleinen Hof ungewöhnlich eng: Lina eilte um die Hausecke, die Hände noch voller Gartenerde, ihr vorweg in raschem Lauf Anna, die – wie ein junges Fohlen – zielstrebig zur Mutter rannte und sich hinter deren Rock versteckte.
Lina war mit festen Schritten über ihren Hof gegangen, zwang dabei den Sünderkarren, der ihren Weg kreuzte, zum Anhalten, und stellte sich hocherhobenen Hauptes den Schergen in den Weg, Therese mit ihren Kindern im Rücken. „ Was soll der Auflauf auf unserem Hof? “ Niemals hatte Therese ihre Lina so selbstsicher, fest und energisch reden hören. Und tatsächlich fühlte sich der Soldat genötigt, Lina noch einmal den Grund für seine Anwesenheit zu nennen. Und wieder kam die Antwort ganz ruhig und fest, jeden Widerspruch von vornherein zurückdrängend: „ Auf diesem Hof wohnen seit seinem Bestehen achtbare und ehrliche Leute! Hier wird niemand arretiert! “
Doch da gab es jemanden, der den Soldaten mehr beeindruckte als Lina „ Nehmt euch zurück Frau! Wir haben einen Befehl des hohen Gerichts, und den werden wir auch ausführen! “ Unmissverständlich hatte er sich, während er das sagte, aufrecht in seinen Sattel gesetzt und hatte den beiden Bütteln auf dem inzwischen hinzu gefahrenen Sünderkarren ein Zeichen zum Handeln gegeben.
„ Dann müsst ihr uns wohl alle vier arretieren! “ Lina sagte es ganz ruhig und entschlossen und stellt sich neben Therese und die Kinder.
Der Soldat beugte sich etwas im Sattel vor, veranlasste die dumpf auf Therese zusteuernden Büttel durch eine kurze Handbewegung und einen schnellen Blick, noch zu warten, und wandte sich dann geradezu verständnisvoll an Lina „ Seid vernünftig Frau! Wir werden euch nicht alle vier arretieren! Aber wir werden unseren Befehl ausführen, und ihr werdet uns nicht daran hindern können! “ Einen kurzen Moment verharrte er noch in seiner vorgebeugten Haltung, sein Blick ging zwischen Lina und den Kindern hin und her, sprach ohne Worte. Dann richtete er sich wieder auf. Ein kurzes Nicken in Richtung der Büttel, und die stapften los wie Hunde, die man von der Leine gelassen hatte. Ohne sich weiter um Lina zu kümmern, trennten sie Therese von ihren Kindern, die spürten, dass hier etwas Schreckliches vor sich ging. Weinend klammerten die sich an ihre Mutter, wurden von dieser fest an sich gepresst, sodass die Kerle alle Mühe hatten, die Kinder von ihre Mutter zu lösen. Rasch, als wollten sie die Angelegenheit nur schnell hinter sich bringen, schoben die beiden Kerle Therese zum Wagen. Hoben die verzweifelt Weinende auf die Ladefläche und banden sie dort mit dem Rücken in Fahrtrichtung fest, schlossen ihre Füße in das Fußschloss, und ohne weitere Verzögerung setzte sich der Karren in Bewegung.
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