Das letzte, was Therese durch einen dichten Tränenschleier sah und was sich ihr unauslöschlich eingeprägte, war, dass Lina ihre Kinder Franz und Anna rechts und links fest an sich gedrückt hielt und hoch aufgerichtet, das Haus im Rücken, hinter ihr hersah. ...
„So war es! So, und nicht anders!“ Sie sah hinaus in die lichte Dunkelheit auf die Wiese. Betretenes Schweigen. Stefan lag mit beiden Unterarmen auf dem Tisch und schaute sie – immer noch vom Nachhall ihrer Worte gefangen – mit offenem Mund an.
„Ja, so war es!“ Franz holte tief Luft, stieß sie unter hohem Druck wieder aus und stiert wie suchend in den sternenklaren Himmel, „Lina hat uns damals an sich gepresst, dass es schon weh tat. ...
Zum ersten Mal in seinem jungen Leben fühlte er die Angst. Spürte, wie Lina, die sonst nie ratlos war, die immer wusste, wie es weiterging, am ganzen Körper zitterte und bebte, hörte die kleine Anna neben sich herzerweichend schluchzen, ohne wie gewöhnlich laut loszuheulen, sah wie der Karren mit seiner weinenden Mutter sich rasch entfernte. Da kroch die Angst, aus Linas Kleidern kommend, wie ein unsichtbares Wesen an ihm hoch, schnürte ihm die Kehle zu, nötigte ihn, wieder und wieder zu schlucken und drückte ihm das Wasser in die Augen. Als Lina sich endlich umdrehte, um mit ihnen ins Haus zu gehen, riss er sich los und rannte den Berg hinunter, dem Karren hinterher. Hinter ihm blieb es still. Lina rief ihn nicht zurück. Unterhalb der Wiese, auf der ihre beiden Kühe teilnahmslos in der Sonne lagen und wiederkäuerten, verließ er den Weg und lief durch den Wald, um so den Weg abzukürzen. Zweige schlugen ihm gegen die Beine, ins Gesicht, er spürte es kaum. Der Wagen! Er musste ihn einholen! Was er dann machen wollte, wenn er ihn eingeholt hätte, das wusste er nicht, das war nichts, worüber er nachdachte. Er folgte nur dem Drang, seine Mutter auf dem Karren einzuholen.
An der kleinen Steigung, kurz bevor er wieder auf den Weg kam, blieb ihm die Luft weg. Er keuchte, lief weiter, stolperte über irgendetwas und fiel der Länge nach hin, kroch , mit zusammengebissenen Zähnen, verzweifelt in sich hinein weinend, einfach das letzte Stück des Abhanges hoch und stand dann auf dem Waldweg. Er wusste, dass er sich links halten musste, lief einfach in dieser Richtung weiter, bekam Seitenstiche – und blieb wie angewurzelt stehen: Vor ihm, nur einen Steinwurf entfernt, stand mitten auf dem Weg der Soldat. Er lehnte an seinem Pferd, so als habe er auf ihn gewartet. Auf dem Pferd sitzend hatte er eben größer ausgesehen, jetzt war er eher klein und rundlich. Dennoch: Wie er so dastand, mitten auf dem Weg, mit seinen dicken braunen Stiefeln, deren Schäfte über die Knie hochgeklappt waren, mit seiner Uniform und dem matt glänzenden Helm auf dem Kopf, da machte er Franz schon ein wenig Angst. Ein Übriges tat der Degen an der Seite, dessen Griff in der Sonne blinkte. Schwer atmend stand Franz auf dem Weg, dem Soldaten gegenüber, wischte sich mit einer unbewussten, raschen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht und wagte sich nicht weiter. Einen kurzen Augenblick regte sich weder er noch der Soldat, dann stieg dieser ruhig auf sein Pferd und kam langsam auf ihn zu. Sein Atem flog, sein Herz schlug sich an den Rippen wund, die Furcht zerriss ihn fast, drängte ihn, den Abhang wieder hinunter zu laufen, aber er blieb stehen! Auch dann noch, als das Pferd dicht neben ihm stand.
„ Geh nach Hause, Junge!“ Der Soldat hatte ganz ruhig zu ihm gesprochen. Die Stimme klang freundlich und er wagte es, zu ihm hochzusehen. Er schaute in ein unrasiertes, von schwarzen Stoppeln übersätes Gesicht. Überhaupt wirkte der Mensch da auf dem Pferd, aus der Nähe betrachtet, ziemlich ungepflegt, aber er schaute freundlich und irgendwie verstehend auf ihn herunter. „Komm, geh wieder nach Hause!“
Franz wagte ein vorsichtiges „Nein! – Ich will zu meiner Mutter!“
„ Ich weiß! Du wärst wohl auch kein richtiger Junge, wenn du nicht wenigstens versucht hättest, sie noch einzuholen. Deswegen habe ich hier gewartet. Ich wusste ganz sicher, dass du kommen würdest.“
Die Tränen hörten einfach nicht auf zu laufen und Franz wischte sich wieder mit dem Handrücken durchs Gesicht, zog rasch und hörbar die Luft in der Nase hoch. Er hatte plötzlich keine Angst mehr vor dem Menschen, der da so verständnisvoll zu ihm redete.
„ Aber glaube mir: Du wirst sie nicht mehr einholen und kannst nicht mehr mit ihr reden. Geh jetzt nach Hause und warte, es wird schon alles gut.“
„ Aber warum habt ihr sie abgeholt und gefesselt?“ Die Frage kam eindringlich und Franz bemühte sich, das Schluchzen zu unterdrücken, während ihm die Tränen nun erneut über die Wangen liefen.
„ Weil man uns den Befehl gegeben hat das zu tun!“
„ Aber warum denn? Meine Mutter kann niemandem etwas tun?“
„ Warum, warum? – Wenn man einen Befehl bekommt muss man den Ausführen! Da kann man nichts machen. Mir gefällt das auch nicht immer!“ sagte der Soldat.
„ Aber warum denn meine Mutter?“ Die Tränen liefen nun wie Sturzbäche durch sein Gesicht, seine Hand fuhr zur Abwechslung mal unter der Nase durch.
Der Mensch auf dem Pferd schob seinen Metallhelm etwas nach hinten und wischte sich über die Stirn. „Das kann ich dir auch nicht so genau sagen, mein Junge! Darum sei vernünftig und geh jetzt zurück zum Hof!“ Er ritt ein paar Schritte weiter, wendete sein Pferd und kam dann wieder zurück.
„ Wo habt ihr sie hingebracht?“
Der Soldat hielt noch einmal an und schaute auf ihn herunter. Irgendwie schauten seine Augen jetzt traurig: „Du kannst fragen Junge! – Wir bringen sie jetzt zuerst in den Turm und wenn alles vorbei ist, bringen wir sie wieder zurück. So, und jetzt geh! Und unterstehe dich, hinter mir herzukommen!“ Sein Finger wies in die Richtung, aus der Franz vor wenigen Augenblicken gekommen war. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und im Nu war er fort.
Franz schaute ihm hinterher, bis er verschwunden war, dann fielen ihm die Schultern nach vorn und es brach ungehemmt aus ihm heraus. Laut schluchzend, zwischendurch aufheulend wie ein junger Hund schleppte er sich geradezu den Berg wieder hoch. Und erst als Lina ihn tröstend an sich gedrückt hatte, an das Kleid, aus dem immer noch die Angst hervor strömte, beruhigte er sich langsam. Als sie ihn am Brunnen abwusch, merkte er, dass er sich bei seinem Sturz Beine, Arme und das Kinn aufgeschlagen hatte. ...
„Das war einfach grausam!“ Franz schüttelte langsam den Kopf, „Anna hat damals wohl am meisten gelitten. Sie hat sofort sehr hohes Fieber bekommen und nichts mehr gegessen, tagelang nicht!“
Eine ganze Weile war es still! Nur das rauschende Atmen des Grases und der Bäume war zu hören.
Pater Gregor erhob sich mit einem Seufzer, lenkte für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich, besser: auf seinen Schatten. Übergroß von der Glut des Feuers an die Hauswand projiziert, bewegte er sich von ihnen fort.
Therese beugte sich etwas vor, schaute ihm nach bis zum Ende der Hauswand. Wortlos band er dort sein bereits zum Heimritt gesatteltes Pferd wieder los und brachte es in den Stall zurück.
„Was wohl aus Anna geworden ist?“ Immer noch schaute sie die Hauswand entlang, drehte sich erst um, als sie hörte, wie Franz nach einer ganzen Weile tief einatmete, um ihr zu antworten.
„Der Pater wusste, dass man sie zu den Zisterzienserinnen nach Landshut gebracht hatte. Sie war dort gut aufgehoben, und er hat dafür gesorgt, dass sie dort bleiben konnte.“ Er sah sie nicht an, sah zu Stefan, der, seinen Kopf auf beide Hände gestützt, Therese nicht aus den Augen ließ, und schweifte dann hinaus zur großen Wiese.
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