Nach der Ohrfeige wurden sie beide grob an den Armen gepackt und von ihrem Sportlehrer persönlich bis vor's Direktorat geschleift, während wütende Schimpf- und Brüllorgien durch die Gänge des Schulgebäudes hallten, die durch Mr. Dick Roberts – Sir, ja, Sir – verursacht wurden.
Beide mussten für den Rest des Schuljahres nachsitzen, bei Kurt dachte man sogar über eine Suspendierung nach. Diese wurde jedoch nie durchgeführt, da dies Kurts Noten ja nur weiter in den Keller gedrückt hätte.
Am Nachmittag desselben Tages sah er Jen überraschend wieder, die, ihn mit einem wissenden Lächeln am T-Shirt packte und in die nächste Mädchentoilette zerrte.
Sie wollte, wie versprochen, ihre Schuld einlösen und machte ihm darüber hinaus ein fragwürdiges Kompliment, dass sie sich, als sie von dem Zwischenfall gehört hatte, halb krank gelacht hätte.
Doch als Jen begann, ihrer Haut ein wenig frische Luft zu zu führen, in BH und Höschen in einer engen WC-Kabine stand und in Kurts Hose fasste, geschah das, wovor Kurt sich immer am meisten gefürchtet hatte.
(Verdammt, nicht genau jetzt, bitte nicht jetzt, nein! Komm schon, bitte nicht!)
In seiner Hose herrschte Funkstille. Die geheime Schulschönheit und sogar der heimliche Schwarm von Kurt stand halbnackt vor ihm und er saß da, vor ihr, schlaff und hilflos.
Als dieser Zustand sich auch nach Minuten harter Arbeit von Jen nicht beheben ließ, konnte sie schließlich den bereits lange unterdrückten Lachkrampf nicht mehr zurück halten (was Kurts Selbstbewusstsein nicht gerade steigerte), zog sich an und verschwand - immer noch kichernd - wortlos aus der Tür, ihn allein am Mädchenklo sitzen lassend.
Irgendwie hätte er es ja kommen sehen müssen. Es wäre ja wirklich ein Wunder gewesen, wenn er einmal im Leben Glück gehabt hätte.
Nachdem ihm nun nichts Anderes übrig blieb, als sich so unbemerkt wie möglich aus dem Mädchenklo raus zu schleichen, öffnete er also langsam die Tür einen Spalt weit, lugte hinaus und bemerkte ein paar Schüler, die quatschend und lachend vorüber gingen. Er riss die Tür krachend zu und betete (was er sonst nie getan hätte), dass sie ihn nicht gesehen hatten.
Eine Minute später versuchte er es noch einmal, diesmal war der Gang leer. Zumindest der Teil, den er aus dem Spalt heraus sehen konnte. Er drückte die Tür auf und stürmte raus. Natürlich rutschte er aus, knallte längs mit dem Gesicht auf den Boden und gab ein grunzendes Geräusch von sich.
Aber es hätte nicht einmal einen Unterschied gemacht, wenn er nicht hingefallen wäre, denn auf der anderen Seite des Ganges lehnte eine Gruppe von Mädchen an der Wand, die sich ebenfalls unterhielten. Als sie Kurt aus ihrer eigenen Toilette rauschen sahen, prusteten sie lauthals los, wobei sich ihr Gelächter noch steigerte, als er hinknallte und sich langsam vom Boden aufrappelte.
Er war gleich darauf nach Hause gelaufen und hatte sich in sein Zimmer eingesperrt, das er bis zum nächsten Tag nicht verlassen würde.
Am Tag darauf wusste es - wieder einmal - bereits die ganze Schule. Es war wie ein Lauffeuer.
Kurt war mehr denn je zuvor der legendäre Schulclown. Tag für Tag musste er sich blöde Kommentare anhören, sich auslachen lassen und erwartete erst gar keinen sozialen Kontakt mit anderen mehr. Nicht, dass sich dadurch dramatisch etwas geändert hätte, aber immerhin wurde es unerwarteterweise noch extremer, was Kurt umso mehr zu schaffen machte.
Als logische Folge darauf, dass sich nichts an seinem Status als Witzfigur geändert hatte, schlug sich dieses Image bald auch bis zu den Lehrern vor. Dies brachte ihm die Freude ein, noch mehr als alle anderen amerikanischen Schulkinder auf militärisch-harte Weise auf das Graduieren – das ruhmvolle Abschließen der Schule –, das für ihn in zwei Jahren stattfinden sollte, gedrillt zu werden.
Ihm wurde (propagandistischer als alle Jahre davor) eingebleut, dass, wenn er diese Schule nicht schaffen sollte, er für den Rest seines Lebens ein Verlierer bleiben würde, dass seine Zukunftsaussichten tiefschwarz aussähen, ihn keiner in der Gesellschaft mehr akzeptieren (sondern nur noch auf ihn spucken) würde und dass er sich dann eigentlich gleich erhängen könnte, denn viel Schöneres würde ihn danach wohl nicht mehr erwarten.
Wie wohl jeder, der vor solche Aussichten gestellt und diesem Druck ausgesetzt wird, versagte Kurt. Die offizielle Version und Rechtfertigung war, dass er bis zu diesem Tag keine einzige Prüfung der Senior High School positiv bestanden hatte und ein Irrtum in der Verwaltung vorgelegen sei; die reale Version, dass er mit geheimer Unterstützung der Lehrerschaft gerade genug Prüfungen positiv bestanden hatte, um aufzusteigen, Jen jedoch bei ihrem Onkel sowie Direktor derart heftige und ausgeschmückte Lügen über ihn erzählt hatte, dass es verwunderlich war, dass Kurt nicht auf 'vorsätzliche Vergewaltigung' verklagt worden war.
Das Aufsteigen konnte er sich damit aus dem Kopf schlagen und Jen hatte ihr dunkles Ziel erreicht, mit Klassenclown Kurt als Opfer beliebt zu werden. Wenigstens für ein paar Wochen, nach denen sie wieder als Freak galt und für sie alles wieder beim Alten war.
Kurt flog von der Schule und musste sich somit einen Job suchen. Vielleicht wäre er ohne diesen Zwischenfall sogar weiter gekommen und hätte die Schule geschafft. Ob seine Zukunft wohl genauso verlaufen wäre, wenn ihm die Möglichkeiten für einen guten Bürojob oder gar ein College und eine Uni offen gestanden hätten?
Nun, hier folgt Kurts Zukunft ohne Schulabschluss.
Kapitel 4: Unbekannte Gefühle und deren Folgen
L.A., Kalifornien, 1967
Kurt flog also in hohem Bogen von der Senior High School. Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht oder ihn überrascht hätte, doch seine Mutter war, ohne ihm jemals etwas davon zu sagen, bitterlich enttäuscht und unglücklich darüber, dass Kurt die High School nicht geschafft hatte, selbst wenn sie die wahren Hintergründe gekannt hätte.
Danach fing Kurt nun – da ihm offensichtlich nichts anderes übrig blieb - einen Mechanikerjob bei einem alten Freund seines Vaters an. Dessen letzter Lehrling Mark war - mit 21 Jahren, einer 19jährigen blonden schwangeren Freundin namens Niccy Patton, einem Alkoholproblem, einem schäbigen Wohnwagen und ganzen 300 Dollar in der Tasche nach Las Vegas abgehauen, um zu heiraten und das große Geld in Vegas zu machen. Wie es ja schon so Viele vor ihm geschafft hatten …
Drei Wochen später kamen beide pleite zurück. Sie mussten per Anhalter fahren, da sie sogar Niccys Wohnmobil versetzt, aber offensichtlich nicht gerade den Jackpot geknackt hatten.
Niccy war mit unserem Kurt zusammen auf der High School gewesen (und hatte damals wie alle über ihn gelacht), was Kurt und Niccy aber erst Wochen später herausfinden würden (als sie sich besser kennen lernen sollten).
Daraufhin bekam Mark wieder seinen alten Job in der Werkstatt und unser Schulabgänger wurde - ohne viel dagegen tun oder sagen zu können - eine Gehaltsstufe nach unten degradiert. Kurz darauf wäre Kurt einmal fast von einer Explosion am anderen Ende der Werkstatt das Gesicht zerfetzt worden, weil irgendein Superhirn in der Nähe der Tankstelle unbedingt eine Zigarette rauchen hatte müssen.
Offensichtlich tötet Rauchen doch wirklich …
Kurt lag im Krankenhaus. Er hatte starke Verbrennungen, vor allem am Oberkörper.
Er erwachte dämmrig aus der Narkose. Sein Kopf fühlte sich taub an, seine Hände waren wie eingeschlafen. Seine Schultern, Brust und Arme waren dick einbandagiert, ebenso wie sein Gesicht. Er richtete sich stöhnend im Bett auf und erkannte sofort, wo er war.
Die Bilder von damals kehrten in seinen Kopf zurück. Wie er als Kind unter all den Verrückten gehockt war, wie sie ihn allein in die Zelle gesperrt hatten. Wie kalt der Rollstuhl sich an seiner Haut angefühlt hatte - der Rollstuhl, der ihm Albträume beschert hatte, an die er sich erst seit wenigen Jahren wieder erinnern konnte. Die ewig herablassenden Blicke der Ärzte und Krankenschwestern. So viele Bilder stiegen in ihm auf, an die er sich erst jetzt erinnern konnte. Bilder, die sein Bewusstsein erst jetzt zuließ.
Читать дальше