Er schrie laut los, wie ein Schwein, das gerade abgestochen wurde. Er wusste nicht mehr weiter, das war alles, was ihm noch einfiel; außer noch zu hoffen, dass sich einer der vorüber gehenden Menschen erbarmen würde, ihm zu helfen. Die Überraschung in Claviers Gesicht war nur von kurzer Dauer, bevor er Kurt mit der verletzten Rechten grob am Arm packte und ihm die andere Hand auf den Mund presste. Nur um sicher zu gehen, dass der kleine Bastard nicht nochmal in die bereits pochende Wunde beißen konnte. Keiner der Umstehenden wunderte sich oder nahm davon Notiz.
Clavier schleppte Kurt vom Marktgelände weg, Richtung Stadtrand. Kurt wusste, wenn nicht ein Wunder passierte, würde er bald sterben.
Kurts Schultern schmerzten vom harten Griff seines zukünftigen Vollstreckers und die Tränen der Angst brannten fürchterlich in seinen Augen. Vernebelten ihm die Sicht. Er wollte noch nicht sterben. Nicht hier, nicht so, nicht jetzt.
Es dämmerte bereits, als sie einen schrecklich dunklen, verlassenen Parkplatz irgendeines Provinz-Supermarktes erreichten, der bereits vor zwei Stunden seine letzten Besucher für heute gesehen hatte. Kurt war zwar noch ein kleiner Junge, doch konnte er sich nur allzu lebhaft vorstellen, was gleich auf ihn zukommen würde. Er war zwar nicht der Hellste, doch er war nicht bescheuert. Er zitterte. Aber nicht, weil er fror.
Clavier stieß Kurt in eine Ecke, die in eine Einfahrt für Lieferanten mündete. Kurt schrie panisch auf, mehr vor Furcht als vor Schmerzen. Clavier lachte laut. Hier würde sie niemand hören. Das triumphierende Lachen erinnerte Kurt irgendwie an seinen besessenen Bruder.
Da passierte das Verrückteste und Unwahrscheinlichste, dass Kurt sich in diesem Moment hätte vorstellen können. Stimmen wurden im geschlossenen Lagerraum am Ende der Lieferanteneinfahrt laut und das Schiebetor öffnete sich quietschend.
Heraus traten mehrere Figuren, die scheinbar besondere Überstunden machten. „Was zur Hölle schreit ihr Arschlöcher hier herum? Wir haben hier etwas zu tun und wollen nicht gestört werden. Du, mit dem schwulen Schnurrbart! Nimm' deine Kröte von Sohn und hau' gefälligst ab!“, meldete sich der potenzielle Anführer der Gruppe zu Wort. Kurt dachte, es wäre um ihn geschehen gewesen. Da meinte Clavier wohl, er müsse den unerschrockenen Helden spielen und erwiderte abwechselnd zahlreiche englische und französische Schimpfwörter, die den Überstunden-Figuren wohl nicht gefielen.
Nun, diese Typen waren in Wahrheit Drogendealer, die sich wohl in ihrem Geschäft gestört fühlten und cholerische Gangstertypen lassen sich nun mal nicht gerne von einem einzelnen, schlaksigen (und sogar noch ausländischem!) Typen drein reden oder gar beschimpfen.
Kurz gesagt: Clavier endete nicht nur mit einer verletzten Hand und einem blauem Fleck am Schienbein, sondern mit mehreren, unschönen Knochenbrüchen im nächst gelegenen Müllcontainer und bald darauf im Krankenhaus.
Kurt war während dieses kurzen Zwiegesprächs unbemerkt an beiden Parteien vorbei geschlichen und nach wenigen Minuten des Wartens im Schatten des Gebäudes nach Hause getrottet, zur Hälfte von seinem Glück geschockt, zur Hälfte von dem Schicksal des Franzosen auf sadistische Weise amüsiert. Rache war ein wunderbares Gefühl, vor allem, weil er selbst nichts hatte dafür tun müssen. Seine Mutter hatte bereits die Polizei informiert und war kurz vorm Nervenzusammenbruch, doch klärte sich mit Kurts Heimkehr schnell alles auf.
Drei Tage später sah er im Fernsehen einen Bericht über seinen Beinahe-Mörder, doch weder sein Name, noch die Absicht des Mannes wurden erwähnt, nur dass – laut Zeugenaussagen - ein paar rüpelhafte Jugendliche den armen Ausländer ausgeraubt, die rechte Hand verstümmelt und einige Knochen gebrochen hatten. Es würde noch nach ihnen gefahndet, aber bis jetzt lägen keine Hinweise vor. Der Verletzte sei auch noch nicht ansprechbar. Von Kurt und Claviers Absichten war nicht die Rede gewesen.
Der Franzose würde, sobald er wieder genesen war, in sein Heimatland zurück kehren und wohl, nach eigener Aussage, nie mehr wieder nach „Scheiß-Amerika“ kommen. Er hatte Kurt schon längst vergessen und war nun viel mehr mit seinen schmerzenden Gliedmaßen beschäftigt.
Kurts Selbstmordversuch wurde ein paar Tage später schulweit bekannt und brachte Kurt nur weitere Demütigungen seiner Mitschüler ein. Sie stempelten Kurt mehr denn je als schwach und feige ab, während seine Lehrer ihn für einen prädestinierten, unfähigen Verlierer hielten - der er ja eigentlich auch war. Wie wollte er nur so den Abschluss schaffen?
Kein einziger seiner Lehrer empfand auch nur den geringsten Respekt oder Verständnis für Kurt. Nicht, dass er durch sein destruktives, gleichgültiges und rebellisches Benehmen etwas anderes erwarten durfte, doch...
Er war zwar Teil der Klasse und tat nichts wirklich Böses, außer sich zu wehren, doch niemand hätte ihn vermisst, wenn er irgendwann zufällig verschwunden wäre.
Kurt nahm die Gefühle aller Parteien irgendwie unterschwellig wahr, spürte sie förmlich. Was sie alle über ihn dachten: seine Mitschüler, von denen manche ihn gar nicht verprügeln wollten, sich aber dazu durch die anderen gezwungen fühlten; seine Lehrer, die ihn loswerden wollten, weil er dem Schul-Image schadete, ihn aber nicht guten Gewissens aufsteigen lassen konnten; seine Mutter, der zwar die Kraft und der Wille fehlte, um ihn allein groß zu ziehen, doch die einfach so lange weiter machte, wie sie konnte (und das weniger deswegen, weil sie ihn liebte, sondern weil sie es als ihre elterliche Pflicht ansah);
Unnötig zu sagen, dass Kurt sich in dieser Umgebung dementsprechend wohl fühlte und gesund aufwuchs. Total wohl.
Aber irgendwie schaffte er es letztendlich doch zwei Jahre später mit viel Mühe, der Angst der Lehrer, einen weiteren Skandal herauf zu beschwören und einer damit verbundenen, offiziellen 'Hilfestellung' bei potenziellen Problemen – dazu später mehr.
Natürlich bedeutete dies nicht gleich eine ruhmreiche, glamouröse Schulkarriere für Kurt, doch immerhin flog er nicht geradewegs von der Grundschule – was seine Mutter wohl in ein sehr frühes Grab gebracht hätte.
Doch Kurt machte sich nicht viel Gedanken über seine Zukunft, sondern ließ sich lieber unbeteiligt durch sein Leben bis zum gerade noch erfolgreichen Abschluss tragen, wie sonst auch immer.
Er würde nicht mal in seinen wildesten Träumen erahnen können, wie seine Zukunft aussah.
Kapitel 3: Der Druck des Wachsens
L.A., Kalifornien, 1962
Kurt war also irgendwie als Zwölfjähriger mithilfe eines unverdient hohen Notendurchschnitts von seinen Lehrern in einstimmigem Beschluss durch die Junior High School gedrückt worden. Höchstwahrscheinlich nur, um ihn möglichst schnell los zu werden. Dies würde am Unauffälligsten funktionieren, wenn er ohne durch zu fliegen mit mittelmäßigen Noten graduierte. Er musste wegen zahlreichen Schülerstreichen, obszönen Zwischenrufen während des Unterrichts und anderen ähnlichen Ausbrüchen von Jugendrebellion ständig nachsitzen und fiel bei den Aufsichtslehrern immer wieder gewalttätig auf, was sich jedoch rätselhaft in keinster Weise auf seine Noten auswirkte.
Vielleicht gerade deswegen hatte er nunmehr von seiner Mutter, seinen Lehrern, mehreren Schulpsychologen und sonst wem permanent den Druck im Nacken, gerade jetzt vor dem Abschluss ja nicht zu versagen. Realistisch gesehen, konnte dies zwar sowieso nicht geschehen, da ihn die Lehrer ohnehin decken würden, aber natürlich weihten sie Kurt nicht in ihren Plan ein. Irgendwie mussten seine angeblichen Leistungen ja glaubhaft wirken. Also musste man ihm die Anspannung und den Stress nichtsdestotrotz ansehen können, auch wenn seine eigenen Fortschritte weit unter denen seiner Mitschüler lagen.
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