1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Diese Witze über seinen Vater brachten Kurt soweit, dass er einmal einem besonders beliebten Cliquenführer – und einfallslosem Schulschläger - namens Bobby Delarow im Speisesaal ihrer High School das Essenstablett so lang gegen den blanken Schädel donnerte, bis derselbe eine lebensgefährliche Gehirnerschütterung und darauf folgende Gehirnblutungen davontrug.
Kurt und Bobby Delarow sind umringt von anderen Mitschülern, zahllose Münder, zu einem O von blankem Entsetzen verzogen. Es ist Nachmittag und die Sonne scheint sanft durch die Fenster des Speisesaals. Kinder, paralysiert von der Rohheit des dummen, kleinen Schulclowns, die allesamt nichts anderes tun können, als fassungslos da zu stehen und der Blutspur zuzusehen, die langsam, ganz langsam, von Bobbys Stirn auf den grauen Linoleumboden des Essensraums tropft.
Platsch ... platsch ... platsch.
(Wenn du noch ein verdammtes Wort sagst...)
Platsch ... platsch ... platsch.
Beinahe im Sekundentakt.
Bobby wird die nächsten drei Jahre in einem Krankenbett verbringen und schließlich einen Gehirnschlag erleiden und sterben. Kurt wird lange nichts davon erfahren, sehr lange.
Trotz Kurts allgegenwärtiger Gleichgültigkeit gegenüber seinem nicht gerade rosigen Leben, konnte er nie wirklich die sporadischen Anfälle von Depressionen, zielloser Wut und Selbstmordgedanken verdrängen, die ihn immer wieder quälten. Sein größtes Problem dabei war, dass er zu feige war, es einfach durch zu ziehen. Alles zu beenden.
Doch Kurts Mutter hatte von all dem nicht den blassesten Schimmer.
Alles, was sie bemerkte, war sein wirklich auffällig niedriger Notendurchschnitt. Er litt offensichtlich an einer starken Lernschwäche, welche seine präpubertären Depressionen, sein familiärer Verlust und die Tabletten nicht gerade minderten.
„Ja, wirklich ein harter Fall, aber was soll man machen, da muss man durch, nicht?“ war die einzige, hastige, peinliche Bemerkung Ms. Hoovers zu Kurts Mutter während eines Elternsprechtages. Sie wollte eigentlich gar nicht wirklich über dieses Thema sprechen, sie war mit dieser Patientengeschichte maßlos überfordert. Sie meinte, sich noch zu einem weiteren Satz mit aller Kraft durchringend, dass Kurt nur sehr langsame Fortschritte mache und dass selbst diese beinahe stagnierten.
Es gab viele Gründe für Kurt, sein Leben zu hassen. Dies wirkte wie ein Katalysator für die kurzen, immer wieder auftretenden Wutanfälle, genauso wie die frustrierten Fragen nach dem Sinn zahlreicher Facetten seines Lebens. Es war ein sich selbst verstärkender Teufelskreis.
Er war traurig, verletzt, allein und wütend.
Er verstand nicht, wieso irgend einem Menschen, egal wem, so etwas widerfahren musste, warum es geschehen durfte; und vor allem, warum verdammt nochmal eigentlich gerade er das sein musste, der so ein Leben verdiente. Er suchte einen Grund für seine Schicksalsschläge, irgendeine Schuld, die er zu begleichen hatte. Oder jemanden, der daran schuld war. Natürlich fand er nichts. Noch nicht.
Er hatte es satt, für alle den Sündenbock zu spielen. Er sollte ihnen allen endgültig einen Strich durch die Rechnung machen. Was für einen Sinn machte das Leben denn, wenn es nur aus Enttäuschungen bestand?
Er hatte einen Plan.
Einen Plan, der sich wohl für einen geistig gesunden, wohl erzogenen Menschen vollkommen irrational angehört hätte, doch für Kurt, mit seinem gepeinigten Verstand und seiner traumatisierten, erstickten, krampfhaft unterdrückten Vernunft klang das Ganze wirklich sinnvoll und angebracht.
Er würde es ihnen allen zeigen...
Kurt saß in der Schule. Er hörte nicht zu. Er fantasierte, stellte sich einen Baseballschläger vor, mit dem er jedem, der irgendeine abfällige Bemerkung über ihn oder seine Familie gemacht hatte, den blanken Schädel vom Hals schlagen konnte, um ihre leblosen Körper danach aufgespießt verbrennen zu lassen. Vor den Augen aller, die noch übrig waren.
Er stellte sich vor, wie er seine Lehrer mit einer übergroßen, geladenen Schrotflinte, wie eine Schafherde, zusammen trieb und alle dazu brachte, von einer meterhohen Klippe in die reißenden Fluten des wilden, unbarmherzigen Meeres zu springen, wo sie alle schön langsam ertrinken oder von einem Hai gefressen würden oder wie auch immer zum Teufel ins Gras beißen sollten.
Er hätte Drehbuchautor für Horrorfilme werden können.
Er dachte daran, all diesen eingerauchten Hippies und Blumenkindern mit ihrem Gequatsche von Frieden und Gleichheit ihre ach so teuren Kunstwerke und Bücher und Botschaften in ihre betäubten Gesichter zurück zu schleudern, sie zu zerstören, ein zu schlagen, sie auf zu fressen, durch zu kauen und wieder aus zu spucken, um zu sehen, was die tun würden, wenn man ihnen alle Freude am Leben gewaltsam aus dem Herzen reißt; ob diese Idioten dann noch immer von Frieden und Freude und ach so freier, bedingungsloser Liebe brabbelnd vor sich hin träumen würden.
Sie alle sollten für ihre ihre Ignoranz, ihre Illusionen bezahlen. Für ihre Scheuklappen vor der gnadenlosen Realität und für ihre heuchlerischen Pseudobotschaften sollten sie büßen.
All das ging ihm während einer Geschichtsstunde durch den Kopf, als er auf das Bild des Filmprojektors starrte, welches Aufnahmen von Hitler und Stalin zeigte. Das Licht des Projektors reflektierte von der blassen Haut ihrer durch und durch unmotivierten Lehrerin, die mit halluzinogenen Drogen bis oben hin abgefüllt war. Ihr Kopf lehnte leblos gegen die Wand am hinteren Ende des Klassenzimmers und ihre Augen waren geschlossen. Die Kinder hatten diesen Film schon etwa zwanzig Mal gesehen und waren mittlerweile völlig abgestumpft davon.
Sie langweilten sich, immer wieder dieselben Bilder zu sehen, doch sie würden nie die wahren Hintergründe verstehen können, weil die meisten Erwachsenen zu feige oder zu faul waren, ihnen ihre persönliche Version der Wahrheit über diese Taten begreiflich zu machen.
Kurt hing – während Hitler gerade eine seiner markanten Reden hielt - seinen eigenen Gedanken nach, ohne seine Umwelt zu registrieren und kritzelte in sein Heft irre, wahnsinnige Zeichnungen von zerquetschten Körpern und massakrierten Tieren.
Er verstand all die positiven, predigenden Lebensverbesserer nicht, wie die auf solchen Schwachsinn kommen konnten. Das Leben war scheiße. Das Leben war undankbar und alles andere als gerecht. Zumindest sein Leben.
Wofür sollte er eine Schule besuchen, wenn er doch vor dem Abschluss sowieso wieder rausfliegen würde? Wozu sollte er einen Job lernen, den er nur zwei Wochen später verlieren würde? Warum sollte er nicht sofort, jetzt und hier, mit allem Schluss machen?
Allen, die es sichtlich genossen, ihn runter zu machen, die Tour vermasseln und ihnen die einzige Quelle zur Befriedigung ihrer eigenen Minderwertigkeitskomplexe weg nehmen ... so dass sie an ihrer eigenen Unsicherheit zugrunde gehen sollten.
Er wollte nicht den Rest seines Hundelebens der Fußabtreter für alle anderen sein. Also beschloss er, diesmal endgültig einen Schlussstrich unter seine gequälte Existenz zu ziehen.
Es war früher Nachmittag und in der Schule herrschte die von Schülern wie Lehrern sehnsüchtig erwartete Mittagspause. Kurt hatte genug davon, vor lauter Angst den Schwanz ein zu ziehen und – so wie jeden Tag - in irgendeiner Ecke des Schulhofs allein in sich hinein zu heulen. Oder in sich hinein zu grollen und seinen Zorn in die hintersten Winkel seines Bewusstseins zu drängen, zu verbannen. Was ihm meistens sowieso nicht gelang.
Also schlich er sich in einem von der Pausenaufsicht unbeobachteten Moment aus dem Essensraum durch endlos erscheinende Gänge des weiß gestrichenen Schulgebäudes, bis hinauf auf das Dach. Immer auf der Hut, sich vor eventuellen Entdeckern zu verbergen und sich notfalls eine Ausrede für sein Herumwandern einfallen zu lassen.
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