Kaum befand sich Violette wieder im Büro, sagte Frau Werenfels: »Nur die Büroangestellten dürfen ihre Schirme dort abstellen. Die Lagerarbeiter haben bei sich genügend Platz.«
Violette nickte nur und wollte sich an ihren Schreibtisch setzen.
»Und mein Mantel?«, fragte die Frau des Chefs. »Denken Sie, ich werde hier einfach so stehen bleiben! Nun helfen Sie mir schon!«
Violette half ihr aus dem Mantel. Die lacklederne Handtasche war dabei im Weg, doch Frau Werenfels umklammerte sie fest, wechselte sie dann in die andere Hand, um aus dem Ärmel schlüpfen zu können. Hinter der Tür gab es drei Haken an der Wand. Dort hängte Violette das Kleidungsstück sorgfältig mit einem Kleiderbügel auf. Die Pelzmütze blieb allerdings auf dem Kopf der Frau.
»Sie sind doch dieses Fräulein Girold«, stellte Frau Werenfels mit abschätzigem Blick fest. »Ich muss sagen, ich habe Sie ganz anders in Erinnerung.«
»Ach ja«, sagte Violette.
»Nicht so klein und dünn«, kam direkt die Antwort.
Das war doch beleidigend! Aber was konnte Violette dagegen unternehmen? Sie musste es einfach über sich ergehen lassen.
»Aber die Hauptsache ist«, fuhr die Frau des Chefs weiter, »dass man sich auf Sie verlassen kann.« Die Art, wie sie dies aussprach, verriet, dass sie nicht wirklich an Violettes Zuverlässigkeit glaubte.
»Wollen Sie zu Herrn Mangold?« fragte Violette Girold. Die Dame reagierte nicht darauf, sondern schritt, mit den Augen alles prüfend, den Raum ab. »Was ist denn das hier?«, fragte sie plötzlich und hielt einige Papiere, die sich neben der Postablage befanden, in die Luft.
»Das muss noch abgelegt werden«, erklärte Violette und schaffte es endlich, sich an den Schreibtisch zu setzen. »Dann tun Sie es!«, bekam sie zu hören. »Wie ich gerade feststelle, werde ich mich während der Abwesenheit meines Mannes hier umsehen müssen! Wir können es uns nicht leisten, Kundschaft zu verlieren, nur weil hier schlampig gearbeitet wird!«
Violette fing zu arbeiten an.
»Wo sind die anderen Angestellten?«, fragte Frau Werenfels.
„Herr Mangold befindet sich in seinem Büro, Herr Brenner ist im Lager und Herr Hardmeier wird mit dem Lieferwagen unterwegs sein.«
»So.« Frau Werenfels senkte den Kopf etwas, wobei ihr Doppelkinn hervortrat und die breite, runde Pelzmütze einen dunklen Schatten in ihr unzufriedenes Gesicht warf. »So ist das also«, redete sie mehr zu sich selbst, und dann wieder lauter: »Melden Sie mich nun bei Herrn Mangold an.«
Violettes Hand griff zum Telefon und teilte Mangold den Besuch der Frau des Chefs mit. Kaum hatte sie aufgelegt, als der Buchhalter auch schon eintrat. Mit einem für ihn ungewöhnlich wippenden Gang eilte er mit zur Begrüßung ausgestrecktem Arm Frau Werenfels entgegen. Die fuhr ihn aber gleich an: »Wenn ich mir schon die Mühe mache, mich um die Geschäfte meines Mannes zu kümmern, dann verlange ich zumindest, dass eine gewisse Ordnung herrscht. Nicht einmal meinen Schirm konnte ich abstellen!«
Er zog die Hand zurück, entschuldigte sich. Die Handtasche noch immer umklammernd, ging Frau Werenfels gleich vor. Mangold folgte ihr mit gesenktem Kopf, schloss dann die Tür hinter sich zu. »Es geht einfach nicht, dass während der Abwesenheit meines Mannes solche Vorfälle – «, drängte sich die krächzende Frauenstimme durch den Flur, bevor sie, durch das Schließen von Mangolds Bürotür, zu einem unverständlichen, dumpfen Geräusch wurde.
Kapitel 3
Violette fühlte sich wohl in ihrer kleinen Wohnung. Es gab viele Dinge, die sie pflichtbewusst erfüllte. Wenn sie auch nicht gerade eine makellose Sauberkeit anstrebte, so schätzte sie doch eine ordentliche Umgebung. Natürlich hatte dieses Alleinsein auch seine Schattenseiten. An manchen Abenden konnte es sie plötzlich überfallen, dieses Gefühl von Einsamkeit, Verlassenheit, ja, abgekapselter Isolation. In diesem Zustand zog sie sich erst recht zurück, wollte niemanden sehen, ausgenommen vielleicht ihre Mutter. Sonst gab es keine näheren Bekannten in ihrem Leben, zumindest seit einiger Zeit keine mehr, die sich die Mühe machten, Violettes Panzerung zu durchbrechen. Auch wenn sie selbst darunter litt, so schien es, dass sie sich verlassen fühlen wollte. Stundenlang konnte sie auf dem Bett liegen und sich selbst beweisen, wie stark sie im Kampf mit ihrer Tränen war, um schlussendlich in einem Schluchzen zu explodieren, das ihren ganzen Körper durchschüttelte.
Heute war es allerdings nicht so. Violette summte sogar leise vor sich hin, wie sie die letzten Aufräumarbeiten in der Küche verrichtete, um es sich dann im Wohnzimmer gemütlich zu machen. Vorher ging sie noch ins Bad, schlüpfte aus den Kleidern und zog sich den braunen Bademantel an, dessen Weichheit sie gerne auf ihrer Haut mochte. Sie schaute kurz in den Spiegel. Ihr dunkelbraunes, leicht gelocktes Haar hing ihr knapp auf die Schultern. Mit gespreizten Fingern strich sie es nach hinten und verließ das Bad.
Es klingelte.
Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieb Violette stehen. ihr Arm ging hoch, die andere Hand schob den Ärmel des Bademantels zurück, die Augen schauten auf die Uhr. Es war kurz vor zehn! Wer konnte das sein? Dass um diese Zeit noch jemand bei ihr klingelte, löste eine kleine Verzweiflung in ihr aus. Ihr Herz schlug schneller, sie fühlte sich für Sekunden vollkommen blockiert, als stünde sie vor einer großen, unumgänglichen Entscheidung, zu deren Lösung sie sich momentan nicht in der Lage befand. Dann durchstieß sie diese Starre, drehte sich ruckartig um und ging langsam auf die Wohnungstür zu.
Es klingelte wieder, nur kurz, ein Antippen des Knopfes.
»Ja, wer ist da?«, fragte sie. Ihre Stimme, aus der Wortlosigkeit ihres Alleinseins herausgehoben, klang belegt, zu leise, sie wollte die Worte wiederholen, aber die Klingel fuhr dazwischen, kurz, wie die anderen beiden Male.
Als könnte sie sich in der Zeit geirrt haben, schaute sie nochmals auf ihre Armbanduhr: es war zehn. Wer konnte das sein? Jemand aus dem Haus, ein anderer Mieter, eine Mieterin, vielleicht Frau Manz, die Frau des Hausmeisters.
Das lange Zögern verunsicherte Violette noch mehr. Warum nicht öffnen? Es musste jemand aus dem Haus sein, denn der Haupteingang unten war um diese Zeit abgeschlossen. Schon drehte sie den Schlüssel um und zog die Tür einen Spalt breit auf.
»Ja, wer ist – « Die Frage erstickte vor dem letzten Wort. Ihr leicht vornübergebeugter Oberkörper versteifte sich. »Sie?«, sagte sie in den hallenden Flur hinaus.
Es war Hardmeier, der Fahrer aus der Weinhandlung.
»Störe ich?«, fragte er in seiner lockeren Art und setzte ein Grinsen auf.
»Was wollen Sie?« Violette spürte, wie sie in eine Hilflosigkeit hinein glitt.
»Ich habe ein Problem«, erklärte Hardmeier. »Es geht um den Lieferwagen der Firma. Wie Sie ja wissen, darf ich den – laut Anweisungen von Werenfels – privat nicht benutzen. Ich musste Möbel transportieren. Als ich den Wagen vorhin zurück bringen wollte, war das Tor zum Hinterhof abgeschlossen. Das ist sonst ja nie der Fall.«
»Und warum kommen Sie zu mir?«, fragte Violette, und es war ihr äußerst unangenehm, dass dieser Mann vor ihrer Wohnungstür stand und dazu noch so laut sprach.
»Sie haben sicher einen Schlüssel zu dem Tor«, sagte Hardmeier. »Ich meine, im Büro muss irgendwo einer sein.«
»Bringen Sie den Wagen einfach morgen zurück, wenn Sie zur Arbeit kommen«, schlug sie vor.
»Geht doch nicht«, antwortete er. »Das wird Mangold mitbekommen und es dem Chef erzählen. Ich vermute sogar, dass der Buchhalter das Tor abgeschlossen hat, vielleicht weil er dachte, ich könnte den Lieferwagen mitnehmen.«
»Wie sind Sie überhaupt hier ins Haus gekommen?« Sie musste diese Frage stellen. Und sie musste etwas unternehmen, denn Hardmeier sprach zu laut und weckte damit noch das halbe Haus auf! Auf keinen Fall wollte sie ihn in ihre Wohnung lassen. Aber als er näher kam, wich sie zurück. Sie hatte keine Wahl. Schon stand er halb in der Diele. Violette zitterte leicht am ganzen Körper. Und dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Nun war er also doch in ihrer Wohnung!
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