Einen Moment lang dachte sie daran, ihre Mutter anzurufen, doch das siedende Wasser lenkte sie davon ab. Also trank sie erst einmal zwei Tassen heißen Tee und aß die Scheibe Brot, die sie dünn mit Butter und Marmelade bestrichen hatte.
Violette musste an Mangold denken. Wie zurückhaltend er sich immer benahm! Im Gegensatz zu Hardmeier! Ja, Hardmeier – wollte der wirklich etwas von ihr? Er hatte doch eine Freundin, lebte sogar mit ihr zusammen. Und dieser Mangold war schon ein eigenartiger Mann. Den ganzen Tag verschanzte er sich in seinem Büro, man sah ihn selten, außer wenn er mal schnell zu Werenfels ging. Über persönliche Dinge schwieg er sich aus. Überhaupt tat das in der Weinhandlung jeder. Vielleicht mit Ausnahme von Hardmeier. Aber darauf würde sich Violette wiederum nicht einlassen.
Sie wusch Teller und Tasse ab, schnürte sich den Bademantel enger, trat ans Fenster und schaute in die regnerische Nacht hinaus. Als müsste sie plötzlich dringend irgendwo hin, verließ sie die Küche und griff zum Telefon.
Kaum vernahm sie die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung, kam sie sich noch einsamer vor. Und als sie wenig später den Hörer auflegte, war es kaum mehr zum Aushalten.
Kapitel 2
Am nächsten Tag lag Werenfels im Spital. Soweit Violette es mitbekommen hatte, musste er zu Hause die Treppe hinunter gestürzt sein und sich dabei eine Rückenverletzung zugezogen haben. Gleich am frühen Morgen herrschte Ratlosigkeit in der Weinhandlung, doch Buchhalter Mangold forderte alle auf, mit der Arbeit wie üblich weiter zu machen.
»Jetzt spielt sich der Zahlenkrämer Mangold wohl als neuer Chef auf!«, bemerkte Hardmeier, als er kurz vor zwölf Uhr die Post in Violettes Büro holen kam. »Aber das mache ich nicht mit!«, garantierte er, »denn von dem lasse ich mir nichts vorschreiben!«
Violette reagierte nicht darauf.
»Es ist doch so, oder«? Hardmeier blieb dicht vor ihrem Schreibtisch stehen und schaute sie fragend an.
»Herr Werenfels wird vermutlich bald wieder da sein«, sagte sie dann, obwohl sie das ja nicht wusste.
»Meinen Sie«? Er hatte noch immer denselben, fragenden Ausdruck im Gesicht. »Da wäre ich mir aber nicht so sicher!«
»Das ist ja auch nicht ihr Problem, Herr Hardmeier!«, erwiderte Violett ohne ihn dabei anzuschauen.
»Warum sind Sie eigentlich immer so unfreundlich zu mir?«, wollte Hardmeier wissen. »Man könnte direkt meinen, Sie hätten etwas gegen mich.«
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu.
»In dieser Bruchbude hier gibt es niemanden, mit dem man ein anständiges Wort wechseln kann!«, regte er sich auf. »Dabei sind Sie die einzige, von der ich annehme, dass sie im Grunde schon in Ordnung sind!«
Das Telefon klingelte. Violette nahm den Anruf entgegen, notierte eine Bestellung, legte wieder auf.
Hardmeier war die ganze Zeit vor dem Schreibtisch stehen geblieben und wartete darauf, dass ihm Violette auf sein Kompliment – wie er das vermutlich auffasste – reagierte.
»Die Post schließt in zehn Minuten«, sagte sie nur. »Ich würde mich also langsam auf den Weg machen!«
»Na dann – keine Antwort ist auch eine Antwort!« Er lachte kurz und etwas zu laut, holte dann die Briefe von der Ablage und verließ das Büro.
Diesmal hatte er wenigstens die Tür nicht offen gelassen. Aber sein Benehmen wirkte heute besonders locker. Vermutlich gefiel es ihm, dass Werenfels nicht anwesend war, für die nächste Zeit vermutlich nicht anwesend sein konnte.
Über die Mittagszeit blieb Violette immer in ihrem Büro. Mangold aß auch etwas in seinem Büro, kam überhaupt nie raus. Hardmeier und Brenner besuchten – trotz ihres nicht gerade guten Verhältnisses – zusammen meistens ein Restaurant, das sich gleich in der Nähe befand.
Der Regen hatte – wie schon gewohnt – tagsüber aufgehört. Diesmal sah der Himmel allerdings nicht mehr so dunkel aus.
Violette holte einen Apfel aus ihrer Handtasche, setzte sich auf dem hölzernen Stuhl gerade hin, legte eine Papierserviette auf einem freien Stück der Schreibtischfläche aus, und begann damit, die Frucht mit einem kleinen Küchenmesser zu schälen.
Gewöhnlich machte sie eine Stunde Mittagspause, wobei sie im Sommer manchmal nach hinten zur Laderampe ging, weil die Sonne dort an warmen Tagen den Stein aufwärmte.
Die Tür hinter Violette wurde so leise geöffnet, dass sie es zuerst gar nicht bemerkte. Dann erschrak sie, drehte sich ruckartig um und entdeckte Mangold, der sein blasses Gesicht vorsichtig hereinstreckte. »Darf ich Sie kurz stören?«, fragte er leise.
»Natürlich«, antwortete Violette und bemühte sich, die Serviette mit der Apfelschale wegzuräumen. Sie warf diesen Abfall nie in den Papierkorb, sondern hinten im Flur gab es einen Abstellraum, wo sich ein blecherner Mistkübel befand. Etwas unbeholfen, die beutelartig geformte Serviette in der Hand, erhob sich Violette und blieb neben dem Stuhl stehen.
»Es wird einen Monat oder gar länger dauern, bis hier alles wieder wie früher ist«, fing Mangold an, wobei er einen Schritt von der Tür weg in den Raum hinein machte. »Sie wissen doch, wegen Herrn Werenfels Unfall. Vorher kann er unmöglich entlassen werden, sagen die Ärzte, zumindest hat es mir seine Frau am Telefon so mitgeteilt.«
»Das ist schlimm«, bemerkte Violette mit teilnahmsvollem Gesicht. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie wenig Mitgefühl mit ihrem nicht gerade freundlichen Chef.
»Und in der Zwischenzeit muss es hier trotzdem weitergehen«, erklärte Mangold in seinem ruhigen Ton, »was wir sicher schaffen werden.«
»Natürlich«, bestätigte Violette.
»Und da ich am längsten für die Firma tätig bin, möchte Herr Werenfels, dass ich in der Zeit seiner Abwesenheit – nun ja, Sie wissen schon. Er hat mich damit beauftragt, als sein Stellvertreter nach dem Rechten zu sehen.«
»Das finde ich gut.« Sie lächelte zurückhaltend.
»Sollte es irgendwelche Probleme geben, dann wenden Sie sich an mich, Frau Girod.«
»Ja, das werde ich tun.«
Mangold wandte sich wieder der Tür zu.
»Und die Post, die an Herrn Werenfels persönlich adressiert ist, soll ich die jeweils ihnen übergeben?«, fragte Violette.
Mangold blieb unter der Tür stehen, drehte sich etwas steif um. Seine ganze Erscheinung wirkte abgespannt. Mit der Hand griff er nach seiner Stirn, fuhr streichelnd den Haaransatz entlang, als suche er dort eine Unebenheit. »Nein, die können Sie wie üblich in das Büro des Chefs legen«, antwortete er dann.
Violette nickte.
»Dann will ich wieder an die Arbeit gehen«, sagte Mangold, und schon war er draußen.
Violette wartete bis sich der Buchhalter in seinem Büro befand, dann eilte sie in den Abstellraum am Ende des Flurs und warf dort die Papierserviette in den Abfalleimer. Kaum saß sie wieder an ihrem Schreibtisch, als Hardmeier und Brenner vom Mittagessen zurückkamen. Hardmeier betrat Violettes Büro, schloss sogar die Tür hinter sich, um sich dann in recht lässiger Haltung auf die Ecke des Schreibtischs zu setzen. Es war das erste Mal, dass ihn Violette so erlebte. Die Abwesenheit des Chefs schien ihm Mut zu machen.
»Sehen Sie, ich habe mir das mit dem Türeschließen zu Herzen genommen«, sagte er mit gespieltem Stolz. »Aber ich frage mich, warum Sie über die Mittagszeit immer in diesem engen Büro bleiben?« Er konnte ein breites Grinsen nicht verkneifen.
»Mir gefällt es«, antwortete sie.
»Sie könnten doch mit uns essen kommen«, schlug er vor. »Mal raus aus der muffigen Bude!«
Violette passte es gar nicht, wie er auf ihrem Schreibtisch saß. „Können Sie sich nicht benehmen!«, sagte sie. »Stehen Sie bitte auf!«
»Wie meine Mutter!«, bemerkte er und blieb sitzen. »Dabei sind Sie doch noch jung, mein Fräulein! Also etwas lockerer, wenn ich bitten darf!«
Читать дальше