Dann ist es höchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Diesmal fahre ich mit ihr im Bus nach Ottobrunn und begleite sie auf dem Fußweg noch bis zu ihrer Haustüre. Noch ein kurzer Kuss, und schon muss ich mich arg beeilen, den wirklich allerletzten Bus nach München zurück noch zu bekommen, mit dem Taxi wär's mir entschieden zu teuer. Vom Isartor weg laufe ich zu Fuß nach Thalkirchen, den Kopf voller Gedanken, aufgeregt, froh, hoffnungsvoll und doch ein wenig Bange. Wird aus der Geschichte wirklich einmal die große Liebe werden, oder doch wieder nur eine Enttäuschung mehr wie bei den bisherigen Mädchenbekanntschaften? Ich hoffe, Ulla wird die Liebe meines Lebens werden, sicher bin ich mir nicht, noch nicht.
In diesen Wochen sehen wir uns öfter, auch außerhalb der Tanzstunden. Ich arbeite in der Kreuzstraße, kurz hinter dem Sendliger Tor und ihre Filiale ist in der Salvatorstraße, zu Fuß gar nicht so weit weg. Mit dem Auto braucht man fast länger und dann gibt es nirgends eine Parkmöglichkeit. Wenn ich früher Feierabend habe als sie, dann besuche ich sie in ihrer Arbeitsstelle. Ihre Firma vertreibt Vervielfältigungsmaschinen und auch schon Schnelldruckmaschinen. Sie kann an allen Maschinen, die dort stehen selbstständig drucken. Das erstaunt mich, denn eigentlich hat sie ja Groß- und Einzelhandelskaufmann gelernt und ist erst seit einem knappen Jahr in dieser Filiale als Mädchen für alles, von Buchführung bis Schablonen schreiben und eben auch bis zum Selbstständigen drucken.
Wenn ihre Arbeitszeit vorbei ist, gehen wir durch die Altstadt bis zum Parkplatz meines Autos. Ohne einen besonderen Anlass darf sie nicht zu spät nach Hause kommen. Bei Ulla geht es weit strenger zu als bei mir. Wir, mein älterer Bruder Harry und ich haben uns in langen Kämpfen mit den Eltern unsere Freiheiten erobert. Lediglich am Sonntagabend muss ich spätestens um 23.00 Uhr einpassieren.
Die verbummelte Zeit holen wir dadurch herein, dass Ulla nicht mit dem Bus fährt, sondern von mir mit meinem kleinen Autolein bis zur Kreuzung Putzbrunner/Josef-Seliger-Straße gebracht wird.
Das Verlangen, uns so oft als möglich zu sehen und beisammen zu sein wird immer stärker. Für die Pfingstfeiertage planen wir einen Ausflug nach Fischbachau mit Übernachtung im Zelt! Ein Ausflug über Nacht, das geht nicht ohne die Zustimmung ihrer Mutter. Dazu muss ich mich erst einmal dort vorstellen. So etwas habe ich noch nie getan. Wie macht man das eigentlich richtig. Klar Anzug und Krawatte, höflich sein sowieso. Blumen mitbringen für die eventuell künftige Schwiegermutter, was aber für Ullas Tante. Vorsichtshalber frage ich den Tanzlehrer, was man in einem solchen Fall richtig macht. Auch er musste erst nachdenken, bis er dann zu dem Schluss kam. "Das erste Mal nur für die Mutter Ihrer Angebeteten, was später kommt, müssen Sie selbst herausfinden". Blumen für die Dame das war klar, aber welche Blumen. Rosen sind nicht angebracht. Nelken sind Herrenblumen. Was sind denn ihre Lieblingsblumen, will ich von Ulla wissen. "Das errätst Du nie, Margeriten und roter Klee". Ich kann doch nicht einfach von einer Wiese Blumen pflücken, wie schaut denn das aus, außerdem sind die Margeriten noch nicht so weit, das dauert vielleicht noch 2 Wochen. Was kommt den Margeriten am nächsten? Gerbera! Diese margeritenähnliche Blume aus Israel ist gerade groß in Mode gekommen, es gibt sie praktisch das ganze Jahr über und in allen Farben zu kaufen. Weiße und rote Gerbera, meine ich. Nein Weiß und Rot geht überhaupt nicht, das bedeutet Blut und Tränen. Dann nur Weiße, das sieht langweilig aus, was nun, Weiß und Orange, das ist die endgültige Lösung.
Am Sonntag bin ich zum Kaffe eingeladen, Nachmittag um 15.00 Uhr. Wenn die Frage des Pfingstausflugs kommt, erwähnen wir nicht, dass nur wir beide fahren und im Zelt nebeneinander, miteinander schlafen wollen. Das Zelt leihen wir uns von meinen Eltern aus. Offiziell fahren wir mit der Jugendgruppe nach Birkenstein, da sind die Schlafräume streng nach Geschlechtern getrennt. Wir üben das ein wenig ein, spielen alle möglichen Fragen, die kommen, könnten durch, damit wir auch ganz sicher sind, uns nicht zu verplappern. So ganz gelogen ist unser Reiseziel auch nicht. Vom Campingplatz am Wolfsee sind es nur 10 Minuten zu Fuß nach Birkenstein.
Mit Ulla treffe ich mich schon 2 Stunden vor meinem Antrittsbesuch in Ottobrunn. Sie führt mich durch den Ort, zeigt mir die Schule, das Krankenhaus der Inneren Mission, in dem sie nach der Vertreibung aus Eger und den Zwischenstationen Thüringen und Piding bei Reichenhall bis kurz vor dem Tod ihres Vaters aufgewachsen ist. Zum Schluss streifen wir noch ein wenig durch den Wald, bis wir pünktlich wie die Maurer um 5 Minuten nach der vereinbarten Zeit, auch das habe ich in der Tanzschule gelernt, vor der erwartungsvoll neugierigen Familie stehen. Schnell die Blumen ausgepackt und der Dame überreicht, meinen Namen genannt, ein wenig hölzern verbeugt, dann warten, bis sie mir die Hand gibt. Sie lächelt nur ganz zaghaft und reicht mir die Hand. Jetzt das Gleiche noch mit der Tante Rosa. Beim Josef gibt’s nur ein gegenseitiges Servus. Gleich werden wir an den Tisch geführt. Kaffe und Kuchen, Wiener Apfelstrudel, stehen schon bereit. Ulla trinkt keinen Kaffee, obwohl sie jeden Tag für ihre Kollegen große Mengen davon kocht. Er schmeckt ihr nicht. Sie trinkt nie Kaffee, immer nur Tee, den sie sich selbst auf traditionelle Art mit Tee-Ei und Warmhaltekanne, die nur ausgeschwenkt, nie ausgespült wird, zubereitet. Teebeutel sind tabu, höchstens bei Husten- oder Kamillentee geduldet.
Meine künftige Schwiegermutter, ich gehe sehr, sehr voreilig in meinen Gedanken schon davon aus, dass sie es wahrscheinlich eines Tages wird, ist eine große, schlanke, elegante Dame, die sich das viele Leid, das hinter ihr liegt und die harte Arbeit, die sie täglich 9 Stunden lang in einer Aluminium-Spritzgießerei verrichtet, nicht anmerken lässt. Nur ihre etwas melancholischen Augen lassen ihr hartes Schicksal durchscheinen. Sie ist ganz Dame, zurückhaltend, ihre Gefühle immer im Zaume haltend - ein wenig unnahbar. Mich beeindruckt sie vom ersten Augenblick an, wir werden ein gutes, ein respektvolles Verhältnis zueinander haben denke ich, herzlich wird es nicht sein, das fühle ich bereits beim ersten Händedruck. Diese Frau kann nicht mehr lachen, fröhlich sein, sie hat es verlernt, es ist ihr vergangen, vom Schicksal ausgerieben worden.
Ganz anders dagegen ist die Tante Rosa. Klein, einen ganzen Kopf kleiner als ihre Schwester, mit einem leichten Rundrücken und immer in Bewegung, ihre Augen sind überall, kommen keine Sekunde zur Ruhe. Von ihr geht Herzlichkeit aus, dafür ist sie auch viel direkter, nimmt kein Blatt vor den Mund und vertritt ihre Meinung mit Bestimmtheit. Und - sie raucht, am liebsten Filterzigaretten der Marke Astor.
Zögernd und skeptisch werde ich von den beiden Damen ausgefragt. Über meine Familie, über mich, meinen Beruf, meine Zukunftserwartungen. Jede Antwort überlege ich mir ganz genau, dabei spüre ich förmlich die Distanz meiner "Schwiegermutter". Später erfahre ich warum.
Sie hat sich bereits einen Schwiegersohn ausgesucht. Den Sohn des besten Freundes ihres Mannes. Der junge Mann, er studiert Medizin, lebt mit seiner Mutter (auch sein Vater ist bereits gestorben) in Würzburg. Im letzten Spätsommer war sie schon mit der völlig ahnungslosen Ulla dort. Umgekehrt war auch er schon für ein langes Wochenende hier in Ottobrunn. Es hat aber nicht gefunkt zwischen den beiden. Nur Fotos hat er von Ulla gemacht und die, das muss ich neidlos anerkennen, sind nicht einmal schlecht geworden. Es sollte also ein "Vermächtnis" der verstorbenen Väter erfüllt werden. Dass sich trotz aller Mühen der Mütter nichts ergab, wollten die Damen nicht ganz kampflos hinnehmen. Außerdem wäre dieses von den Müttern ausgesuchte Paar als Egerländer Landsleute gewesen, und ich bin ein Fremder, ein "Bojer".
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