Hans-Gerd Pyka
DER WELS
Freiheit oder Diktatur
Roman
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2016 Jürgen Weiske
M & M FUCHS ENTERPRISE CORP. INC.
Naples, Florida, USA
Mail: fuchs.enterprise@gmail.com
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Jürgen Weiske Herausgeber
Thomas Weiske Marketing, Cover-Gestaltung
Marko Milovanovic Recherche, Vorlektorat
Pia Goden dramaturgische Beratung
Felicitas Blanck Lektorat, Endkorrektur
Schriftart Garamond
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nach einer Idee von
Kay Mierendorff † Fluchthelfer, Manager und Geschäftsmann
und
Jürgen Weiske Sales Manager – Event und Marketing
(langjähriger Freund und Geschäftspartner
von Kay Mierendorff)
„Mein lieber Freund, es ist vollbracht. Wir haben Dein Vermächtnis umgesetzt und wissen, Du wärst darum sehr stolz und glücklich. Du lebst in unseren Herzen weiter.“
Dein Freund Jürgen
gewidmet all jenen, die es nicht geschafft haben
Prolog
Es ist mitten in der Nacht, als er in der Klinik aufwacht. Er hatte geträumt, er sei ein Wels in einem düsteren, schlammigen Fluss und habe plötzlich einen riesigen Angelhaken im Maul. Der Haken riss ihm das Maul auf und zerrte ihn ans Licht. Nun schreckt er hoch, liegt auf dem Krankenhausbett, immer noch schwer verwundet, an seiner linken Hand fehlen einige Finger, die lange Narbe auf seiner Bauchdecke sieht er zwar nicht, aber er fühlt sie. Trotz des Morphiums schmerzt sein gesamter Körper. Dabei sind schon einige Tage seit der letzten Operation vergangen.
Er erschrickt, als er in der Dunkelheit des Raumes einen noch dunkleren Fleck sieht, einen mit menschlichen Umrissen: gegenüber dem Bett auf einem Stuhl an der Wand. Zunächst denkt er, der Fleck sei echt, dann wieder, als er sich besinnt, glaubt er, dass es eine Halluzination sein müsse. Und jetzt eine Stimme: „Wissen Sie, Max Weidendorf, wo amerikanische Rentner ihren Lebensabend verbringen, vorausgesetzt, sie sind reich?“ – Max antwortet nicht. „Sie wissen es nicht? Hat Ihnen keiner Ihrer amerikanischen Freunde jemals gesagt, wie er sich das so vorstellt als Rentner?“ Max erkennt die Stimme. Er hat sie schon einmal gehört – es ist die gleiche, die ihm den Befehl zum Rückzug aus Berlin gegeben hat, der amerikanische Agent, derjenige, dessen Leute Little Cat erschossen haben. „Amerikanische Rentner gehen nach Florida, Herr Weidendorf. Dort ist alles etwas einfacher, etwas leichter als anderswo in den USA. Kalifornien ist zu jung, zu quirlig. Aber in Florida hat man seine Ruhe, es ist immer warm und man ist unter sich.“ – „Was wollen Sie hier?“, fragt Max. Er sagt es leise, aber bestimmt. – „Ach, Weidendorf. Sie müssen sich nicht mehr gegen mich behaupten. Der Kampf ist vorbei, Soldat. Sie haben viel für die freie Welt geleistet, haben meine Kollegen von der Konkurrenz ziemlich zum Schwitzen gebracht und Sie sollten froh darüber sein, dass die Jungs Sie nicht ganz erwischt haben. Aber jetzt kommt die große Pause – treten Sie ab.“ – „Ich soll … Dafür bin ich zu jung.“ – „Überlegen Sie es sich. Ich bin bereit, Ihnen die Formalitäten und die Einreise zu erleichtern. Setzen Sie sich zur Ruhe. Machen Sie es gut, Max Weidendorf.“
Der dunkle Fleck an der Wand erhebt sich, wandert geräuschlos zur Tür und verschwindet im Licht des Türspalts.
„Florida“, sagt Max tonlos zu sich selbst. „Florida … Später.“
***
I
In der Onkel-Tom
Eine junge Frau läuft zornig die Straße entlang, dann die Treppe zur U-Bahn hinunter, während ein junger Mann sich die BZ vom 18. Dezember 1966 unter den Arm klemmt und im nächsten Schaufenster sein Spiegelbild findet: Max Weidendorf, mittelgroß, Haare gewellt, Gesicht breit, Nase kräftig, Kinn ebenso, Mantel, Anzug, Hut. Dann steigt er in eine der Taxen ein, die in der Schöneberger Hauptstraße parken. Er ist es nicht gewohnt, chauffiert zu werden. „Nach Zehlendorf, Onkel-Tom, bitte.“ – „Geht mir ja nüscht an, junger Mann, hamse im Lotto jewonn?“, fragt der Fahrer und startet den Motor. – „Warum?“ – „Ick weeß nich. Hab’s so im Urin, wenn eener wie Sie rinkommt wien Goldklümpchen zu de Horizontaln.“ – Max antwortet nicht, blickt hinaus, denkt daran, dass er den Regenschirm vergessen hat. Während das Wetter in Schöneberg trübe ist und der Fahrer deswegen jammert, zeigt sich kurz darauf in Zehlendorf ein wenig die Sonne. Dann sind sie in der Onkel-Tom, „dree-fuffzich“, sagt der Fahrer, Max gibt ihm vier Mark, steigt aus, geht auf den weißen, dreistöckigen Häuserblock zu und auf den Haupteingang, der sich von den anderen Eingängen durch einen mannshohen, mit vielen bunten Päckchen verzierten Weihnachtsbaum unterscheidet. Direkt daneben, rauchend, ein amerikanischer Militärpolizist, leicht zu erkennen an dem Helm mit dem weißen Aufdruck MP. „Hi“, sagt der, als Max näher kommt. „Schönes Wetter“, antwortet Max auf Englisch. „Kann nicht besser sein“, antwortet der Amerikaner. „Ob’s Schnee geben wird an Heiligabend?“, fragt Max. „Ich liebe Schnee“, sagt der Amerikaner. – „Ist Heinz Semnet da?“, fragt Max. „Ist da“, sagt der Amerikaner und fügt hinzu: „Heinz ist sehr beschäftigt, man geht ihm besser aus dem Weg.“ – „Ich werde ihn unterstützen“, sagt Max. „Zigarette?“, fragt der Amerikaner. „Marlboro?“, fragt Max. „Marlboro“, sagt der Amerikaner, zieht die Packung aus seiner Brusttasche, reicht sie Max und im selben Moment klickt ein Feuerzeug. Max nimmt den ersten Zug, der Amerikaner sagt: „Feuer aus Heidelberg.“ – „Heidelberg ist schön“, sagt Max. „Ich liebe old Germany“, sagt der Amerikaner, reicht seinem neuen Freund die Hand und stellt sich vor: „Sergeant Frank Miller.“ – „Max Weidendorf“, sagt Max. „Geschäftsmann?“, fragt der Amerikaner. – „Immer“, antwortet Max. „West-Berlin ist gut für Geschäfte“, sagt der Amerikaner. „Besser als Ost-Berlin“, sagt Max. „Darum sind wir hier“, sagt der Amerikaner. „Hoffentlich noch lange“, sagt Max. – „Bis sieben Uhr“, antwortet der Amerikaner und Max muss lachen.
Als der neue Leiter der Alliierten-Apartments das Haus betritt, hat er den selten anzutreffenden Geruch einer Ölheizung in der Nase und Semnets Stimme im Ohr, die ungewohnt klingt, weil der Mann Englisch spricht – Max hat ihn so noch nicht gehört. Geradeaus eine Glastür mit der Aufschrift Office – Büro, rechts ein Flur mit einigen Türen, die geschlossen sind, links ein kurzes Flurstück mit einer geöffneten Tür, aus der weibliche Stimmen zu hören sind, ausnahmslos englische. Max nimmt seinen Hut ab, klopft an das Glas, tritt ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Der alte Semnet sitzt an einem schlichten Holztisch, hat eine Schirmmütze auf dem Kopf, drückt einen Telefonhörer ans Ohr, sieht kurz auf, notiert etwas in ein Heft und spricht Englisch wie jemand, der seit Stunden schweigen möchte. Hinter ihm an der Wand hängt ein gerahmtes Foto von John F. Kennedy mit einem Trauerband. An der linken Wand ein Foto von Ernst Reuter. „Ihr Völker der Welt“, fällt Max spontan ein. An der rechten eins von General Lucius D. Clay. Noch während Semnet spricht, klingelt ein zweites Telefon, das Max jetzt neben einigen schwarzen Aktenordnern entdeckt. Über Semnets Kopf, an der Decke, hängt ein riesiger Ventilator, den Max einschalten möchte, weil es im Büro nach Schweißfüßen riecht. Als er sich auf den Stuhl setzt, der vor dem Tisch steht, stößt er versehentlich gegen Semnets Winterschuhe, die umgekippt auf dem Stragulaboden neben den Strümpfen liegen, und sieht dessen nackte, krampfadernblaue Füße.
Semnet legt den Hörer auf, greift zum nächsten und spricht wieder Englisch, während er eine Schublade aufzieht, zwei Lappen herausfischt und sie über den Tisch reicht.
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