Mit Vorsicht berührte er die Schulter des Kindes: »Hör zu, Lena. Ich bringe dich jetzt weg von hier, in Sicherheit. Es wäre wirklich schön, wenn du nicht um dich schlägst und mir dabei die Nase zu Brei haust!«, hob er die Kleine aus dem Käfig. »Verdammt! Wie viel wiegst du? Nicht zu fassen. Wie ist das möglich, dass kleine, dürre Mädchen eine halbe Tonne wiegen?«, beschwerte er sich.
Sachtemang setzte er Lena auf einem Stuhl ab, bemüht, dass sie nicht davon herunterglitt. Als er sicher war, dass das nicht passierte, schnappte er den Raben, beförderte das garstige Vieh in den Käfig und sicherte die Tür mit dem Vorhängeschloss.
Schleunigst zog er wieder seine Jacke an. Von Eile getrieben, hob er Lena hoch und legte sie über seine Schulter. So schnell es ihm seine Beine ermöglichten, rannte er den Waldweg entlang, immer in Richtung Landstraße. Nichts wäre schlimmer, als ausgerechnet der alten Hexe zu begegnen. Tief besorgt über den Zustand der kleinen Lena, versuchte er ein Gespräch mit ihr zu führen. »Lena, nicht wieder einschlafen!«, mahnte er. »Du musst mir ein paar Fragen beantworten. Wie hat dich die alte Hexe überhaupt in die Finger bekommen?«
»Sie holte mich von der Schule ab. Sie erzählte, meine Mama habe einen schrecklichen Unfall gehabt. Sie sagte, sie wäre eine Bekannte meiner Oma. Die Hexe wollte mich zu meiner Mama bringen. Hat sie aber nicht gemacht...«
»Wie hat sie sich vorgestellt? Erwähnte sie einen Namen?«
»Sie sagte, sie heißt Roxana«, murmelte Lena.
»Hat dir deine Mama eigentlich nicht beigebracht, dass man nicht mit fremden Leuten geht?«
»Du bist doch auch ein Fremder!«, nuschelte das Mädchen.
»Ja, schon… Aber ich rette dich doch - und will dir nichts Böses! Das ist etwas ganz anderes!«, gab er zurück und ärgerte sich über das Misstrauen an falscher Stelle.
Endlich erreichten sie die Landstraße. Dort hielt er nach Autos Ausschau. Ein dunkler Wagen brauste heran.
»Anhalten!«, rief der Barde. Leider fuhr der schwarze Sportwagen viel zu schnell an ihm vorbei. »Idiot! Beim Autofahren mit dem Handy zu telefonieren, das ist strafbar!«, keifte er dem rücksichtslosen Rowdy hinterher und fluchte wie ein Kutscher.
Endlich kam ein weiterer Wagen. Wagemutig stellte er sich ihm mitten auf der Landstraße entgegen. Die Fahrerin des Kleinwagens riss panisch die Augen auf und bremste. Knapp vor seinen Kniescheiben brachte sie das Gefährt zum Stehen.
Schleunigst bewegte er sich um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. »Hallo, junge Frau. Wir haben einen Notfall! Dieses Kind wurde entführt. Ich konnte es seinen Entführern entreißen. Das Mädchen ist kaum bei sich. Sein Name ist Lena. Schnell! Bringen Sie das Kind sofort in ein Krankenhaus!«, bat er dringlich.
»Warten Sie, wir legen die Kleine auf den Rücksitz!«, antwortete die junge Frau. Ohne lange zu fackeln, stieg sie aus dem Wagen und machte sich leicht umständlich am Beifahrersitz zu schaffen. Endlich bekam sie das störrische Ding in den Griff und klappte den Sitz nach vorn. Womöglich bereute sie es in diesem Augenblick, beim Wagenkauf keinen Viertürer genommen zu haben. Sachte betteten sie Lena auf den Rücksitz. Sogar eine Decke holte die Frau, die offenbar nicht einmal zwanzig Jahre zu sein schien, aus dem Kofferraum. Sie deckte das Mädchen damit zu und nahm von der Hutablage einen Plüschteddy, der das matte Kind ein wenig trösten sollte.
»Steigen Sie ein!«, drängte die junge Frau.
»Nein, fahren Sie allein! Ich habe etwas noch viel Dringlicheres zu erledigen!«, sprach er fest entschlossen. »Los, los! Fahren Sie schon endlich los! Ich weiß nicht, was der Kleinen verabreicht wurde! Jede Minute ist eine zu viel, die wir hier vergeuden!«
Die junge Frau sprang wieder in den Wagen, startete den Motor und fuhr davon wie der Teufel. Erleichtert atmete er aus und straffte die Gestalt.
»So, und jetzt mache ich diesem heillosen Horror ein Ende!«, sprach er zu sich selbst und lief schnellen Schrittes zurück zur Kate. Dort angekommen, holte er einen kleinen Flachmann mit Achat-Intarsien aus der Jackeninnentasche. Mit einem »Plopp« öffnete er ihn und verteilte den Inhalt über Möbel und Fußboden. Das Gleiche tat er im Raum mit den vielen Fliegen. Das Seltsame an dieser Sache war allerdings, dass der beschriebene Flachmann nie leer zu werden schien. Tja, der eine besaß die Fähigkeit Brot und Fisch zu vermehren, dem anderen hingegen, mangelte es eben niemals an hochgeistigen Getränken. Schnell trank er selbst noch einen Mundvoll vom Gesöff, ehe er das Streichholz entzündete. Einen Moment wartete er noch, bis die immer größer werdenden Flamme es zu verschlingen drohte. Kurz bevor die Flamme in seine Finger biss, ließ er das Zündholz zu Boden fallen.
Im Nu fraßen sich die Flammen durch das Haus. Die Hitze wurde unerträglich und drohte ihm die Augenbrauen und Haare zu entflammen. Selbst das Reet auf dem Dach fiel den gierig fressenden Flammen zum Opfer.
Panisch krächzte der Rabe in seinem Käfig: »Nimmermehr!« Jedoch beschloss der Barde, dass dieses Tier durch und durch böse war. Es ist sogar wissenschaftlich bewiesen, dass Raben äußerst intelligente Lebewesen sind. Seiner Meinung nach, hätte sich der Rabe für das Gute entscheiden können, statt mit der Hexe gemeinsame Sache zu machen.
Fasziniert von den Flammen und ihrem zerstörerischen Werk, schritt er rückwärts in Richtung der Ausgangstür. Sehr zu seinem Entsetzen wurde seinem Rückzug ein abruptes Ende gesetzt. Ungewollt touchierte er etwas mit seinem Hintern und fühlte damit einen Widerstand. Sein Nackenhaar stand zu Berge. Unsicher warf er einen Blick über die Schulter. Dabei entwich ihm ein: »Oh, oh!«
Im Türsturz stand niemand anderes als die Hexe. Sie war zurückgekehrt...
*
Wer nach fremder Wolle ausgeht, kommt geschoren heim.
(Deutsches Sprichwort)
Sonst nicht unbedingt zur Gewalt neigend, wurde der Barde trotz seiner guten Vorsätze, heftigst handgreiflich. Nachdem, was er im Nebenzimmer der Kate gesehen hatte, beschloss er, der Alten das gleiche Schicksal wie das des Raben angedeihen zu lassen. Brennen sollte sie, diese elendige, menschenfressende Hexe!
Obwohl die Alte ansonsten mit gebeugtem Rücken daherkam und krummbeinig durch die Gegend lief, schien ihr jede Menge Kraft innezuwohnen.
Die Kampfszene wirkte gespenstisch, als der Barde mit der Hexe im brennenden Haus raufte. Flammen loderten überall. Tapeten schälten sich zuerst von den Wänden, rollten sich kurz zusammen, um dann gänzlich zu verbrennen. Das alte Friesensofa schmurgelte erst zu einem Klumpen in sich zusammen, um wenig später eine heftige Stichflamme auszustoßen, die sogleich die Gardinen an den Fenstern in Brand steckte. Alles im Haus brannte lichterloh und mittendrin, wie ein holdes Paar, innig vereint im Tanze, drehten sich die Alte und der Barde immerzu im Kreis. Jeder versuchte bei diesem Kampf die Oberhand zu gewinnen und ihn für sich zu entscheiden. Es wurde gedrückt, geschlagen, geschubst und gedrängelt. Einmal sogar gebissen. Der Barde bereute es jedoch sofort, so ein altes, schlaffes Stück Fleisch zwischen den Zähnen gehabt zu haben.
Pfui, pfui…
Erbarmungslos beabsichtigte jeder, den anderen so nahe als möglich an die Flammen zu drängen und in Brand zu stecken. Glücklicherweise schien unser unfreiwilliger Held ein wenig stärker zu sein, als das rein äußerlich schwächlich wirkende Weib. Mit dem Mut des Verzweifelten, gab er ihr einen kräftigen Stoß, sodass sie lang hinschlug und den Käfig mit sich riss.
Schleunigst versuchte der Barde wieder an die Haustür zu gelangen. Hustend schirmte er seine Augen mit dem Oberarm ab, ganz so, als hätte er Angst, sie könnten vor Hitze platzen. Als er endlich die Tür erreichte, sprang er heraus ins Freie, und grapschte währenddessen eilig nach dem Dietrich in seiner Jackentasche. Er fand ihn letztendlich, warf die Haustür hinter sich zu und rammte den Dietrich ins Türschloss. Wie von Sinnen drehte er ihn solange herum, bis es nicht mehr ging. Schleunigst brachte er eine gehörige Distanz zwischen sich und der Bauernkate, die mittlerweile zu einer wahren Hölle mutierte.
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