Die Alte, die übrigens auch nicht viel besser auf dem Kopf aussah als er selbst - ihr Kopfbewuchs ähnelte einem verfilzten Flokati -, hatte das kleine, blonde Mädchen wie einen Hund in einen Zwinger gesperrt.
Neugierig spitzte er die Ohren, denn die alte Schachtel redete unablässig auf das kleine Mädchen ein. »Ja, du wirst dich noch ein wenig gedulden, und mir noch weiterhin Gesellschaft leisten müssen. So lange, bis ich von dir habe, was ich will. Danach kann deine Mutter dich wiederhaben!« Allerdings erwähnte sie nicht, in welchem Zustand. Dem Barden schwante Böses.
»Aber ehe es soweit ist, muss ich noch eine kleine Besorgung erledigen. Ein bisschen Liebstöckel besorgen. Bin gleich wieder da, mein kleines Vöglein! Und iss deine Suppe, hörst du?«, säuselte sie mit falscher Fürsorge. Dann wandte sie sich an einen Raben. Ein ausgesprochen hässliche Exemplar. Er wirkte, als befände er sich gerade in der Mauser, oder sei mit knapper Not einer gefräßigen Katze entkommen. »Edgar, pass gut auf die Kleine auf, ja? Du leihst mir in der Zwischenzeit deine Augen und Ohren. Deine liebe Mama kommt gleich wieder«, tätschelte sie dem Raben das struppige Kopfgefieder. Benannter Edgar ging bei jedem Tätschler in die Knie, als bekäme er jedes Mal einen Schlag auf den Kopf verpasst.
»Nimmermehr!«, krähte der Rabe, was der Alten ein wahrhaft schauriges Gegacker entlockte.
»Ja, ja… Etwas anderes kannst du sowieso nicht sagen! Bin gleich wieder da!«, sprach sie jetzt gutgelaunt.
Als sie mit krummen Rücken zur Tür humpelte, war der Barde längst weg vom Fenster. In Windeseile huschte er um die Hausecke, umrundete von hinten die Kate und kam neben der Haustür wieder zum Vorschein. Sein unsteter Blick folgte der Alten, die mit sich im Selbstgespräch vertieft, in Richtung Stadt humpelte. Wahrscheinlich wohnte sie noch nicht mal in der Kate, sondern nahm das abgelegene Haus dafür, ihren dunklen Machenschaften nachzugehen. Womöglich folgte sie einer bösen Logik, dass man nie da morden sollte, wo man wohnt...
Lautlos schlüpfte er aus seiner Jacke. Nicht etwa, weil ihm heiß wäre. Nein, damit hatte er etwas ganz Spezielles vor. Vorsichtig schielte er ins Türschloss. Zum Glück kein komplizierter Schließmechanismus. In der Innentasche seiner Jacke befand sich ein Dietrich. Diesen nahm er zur Hand und öffnete beinahe lautlos das Schloss. Eigentlich hätte er als körperloser Geist durch die geschlossene Tür gehen können, um dahinter wieder zu materialisieren. Nur musste er das Mädchen ebenfalls durch diese Tür nach draußen und in Sicherheit bringen. Nachdem er eine Weile sein Ohr gegen die Tür presste und keine verdächtigen Geräusche wahrnahm, entmaterialisierte er und steckte seinen Kopf durch die Tür. Der Rabe saß auf dem Käfig des Mädchens und funkelte es mit hungrigem Blick hochkonzentriert an.
Es müsste anders herum sein!, dachte der Barde. Der Vogel gehört in den Käfig und das Mädchen in Freiheit. Äh, natürlich ohne das hungrige Funkeln!, korrigierte er sich daraufhin im Gedanken. Dann zog er den Kopf wieder zurück und rematerialiserte seine Gestalt.
Bevor er allerdings zur Tat schritt, sammelte er sich noch ein wenig, schloss für einen Moment die Augen, straffte die Gestalt und ging in Startposition. Es kam vor allem darauf an, dass es schnell und möglichst lautlos vonstatten ging. Das dämmrige Zwielicht machte es ihm dabei wesentlich leichter. Vögel sehen nicht allzu gut in der Dämmerung. Zum Glück hielt die alte Vettel nicht allzu viel vom Fensterputzen.
Na dann mal los!, feuerte er sich gedanklich an, öffnete die Augen, dematerialisierte wieder und stürzte im Affenzahn durch die noch immer geschlossene Tür. Falls der Rabe etwas mitbekam, so war es nur der Schemen einer Jacke, die durch die Luft schwebte und sich auf ihn stürzte. Dunkelheit umhüllte das Federvieh, welches überrascht »Nimmermehr!«, krächzte und danach verstummte. Wer kennt das nicht? Selbst der lauteste Vogel wird ruhig, wenn man ihn mit einer Decke umhüllt.
Kurze Zeit darauf ertönte unter der Jacke ein leises Schnarchen.
Er sah in den Käfig. Das Mädchen schien zu schlafen. »He da! Mach mir nicht schlapp! Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Keine Reaktion. »Hallo? Kleines Mädchen? Wie ist dein Name?«
Die Kleine bekam mit Mühe die Augen auf und blinzelte ihn müde an. »Ich will nach Hause!«, stammelte sie verschlafen und rieb sich die Augen. »Mein Name ist Lena«, sprach´s und nickte auf der Stelle wieder ein. Der Suppenschüssel entströmte ein leicht chemischer Geruch. Wahrscheinlich gehörte es zum Plan der Alten, die Kleine mit Medikamenten ruhigzustellen.
»Verdammt! Nun lasse ich mich schon mal zu einer Heldentat hinreißen und dann so was!«, rüttelte er am Käfig. Ein dickes Vorhängeschloss hinderte ihn daran, dem Mädchen die Freiheit zu schenken. »Verflixt noch eins... Okay, ehe ich zur Tat schreite, muss ich erst mal das Terrain sondieren«, redete er sich weiterhin Mut zu. Das Mädchen würde ihm nicht weglaufen. Sie konnte nirgendwo hinlaufen, jedenfalls nicht ohne ihn. Um nicht womöglich durch einen weiteren Mittäter in flagranti ertappt zu werden, schlich er zur Tür des Nebenzimmers. Behutsam und nahezu lautlos drückte er die Klinke herunter. Das Glück war ihm hold. Der Raum war nicht verschlossen. Zögerlich öffnete er die Tür. Schon bevor er ins Zimmer schielte, befiel ihn ein ungutes Gefühl. Dieser Geruch… Und dann dieses seltsame Summen! Die Finsternis, die in diesem Raum vorherrschte, war wesentlich dichter als die, des vorherigen Zimmers. Er blieb unter den Türsturz stehen, bis sich seine Augen an die Düsternis gewöhnten. Die Fensterscheiben dieses Raumes waren von innen mit schwarzem Tonpapier beklebt, welches das Tageslicht und neugierige Blicke aussperrte. Natürlich wäre es einfacher für ihn gewesen, das Licht einzuschalten. Vorausgesetzt, es gab hier überhaupt Elektrizität. Jedoch hinderte ihn seine innere Stimme daran, den Lichtschalter zu berühren. In diesem widerlichen Haus wollte er so wenig wie möglich anfassen. Im Raum befand sich keine lebende, menschliche Gestalt, so viel war schon mal sicher. Schließlich stand er mit dem Rücken zum Gegenlicht. Wäre ein Komplize im Zimmer gewesen, hätte er sich sofort auf ihn gestürzt.
Endlich konnte er erkennen, was sich in diesem Zimmer befand. Vom Kopf abwärts, ergriff ihn die blanke Panik. Seine Füße sprangen automatisch mit ihm in den vorherigen Raum zurück. Schnell schloss er von außen, wie vom Teufel verfolgt, diese verhängnisvolle Tür und würgte anschließend ausgiebig.
»Oh mein Gott!«, stammelte er einer Ohnmacht nahe. Alles in ihm schrie danach, einen ordentlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen, um dieses schreckliche Zimmer mit seinem unaussprechlichen Grauen aus seiner Erinnerung zu löschen. Leider musste er nüchtern bleiben. Nimm dich zusammen! Lauf jetzt nicht weg, sondern tue einmal das Richtige! Rette das Mädchen – und zwar schnell!, rief er sich in Gedanken zur Ordnung. Jetzt kam es darauf an, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, und zwar mit der Entführten, der kleinen Lena, wenn er nicht wollte, dass ihr das zustieß, was ihr aus dem Raum nebenan dräute. Hurtig trat er an Lenas Zwinger. Die Gitterstäbe lagen glücklicherweise so weit auseinander, dass er mit Daumen und Zeigefinger hindurch langen konnte. Er entwendete Lena eine Haarklemme - eine hübsche mit Blume -, bog daran herum und fummelte konzentriert damit im Schließmechanismus des Vorhängeschlosses herum. Endlich klickte es und der Bügel sprang nach oben. Er ließ sich frei bewegen. Der Barde zog das Schloss aus den Ösen des Käfigs und öffnete das Gefängnis. Verächtlich wollte er das Schloss zu Boden fallen lassen, stattdessen kam ihm in den Sinn, es nochmals in Gebrauch zu nehmen. Aber das erst ein wenig später.
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