Falk überquerte die Karl-Liebknecht-Straße am unteren Hangende und fuhr weiter nach Jena Ost, wo er, einige Male abbiegend, über das Kopfsteinpflaster in den engen Straßen holperte. Die Häuser hier standen niedrig und dicht gedrängt beieinander, ab und zu war sogar noch ein Fachwerkgebäude darunter, so dass man das alte Dorf erahnen konnte, das hier, östlich der Saale, einmal bestanden hatte, bevor es von der wachsenden Stadt verschluckt worden war. Falk bog am Supermarkt ab, stellte sein Fahrrad neben dem Parkplatz ab, extra nicht an der Laterne, wo die Nachbarn immer ihre Hunde pinkeln ließen, und betrat den Neubau, in dem die Büroräume des Ingenieur- und Architekturbüros Krehmer untergebracht waren.
An seinem Schreibtisch angekommen wechselte er ein paar Sätze mit seinen Kollegen während der Rechner hochfuhr, und ging dann los, um sich wie jeden Morgen einen Kaffee zu holen. Erst als er am Platz saß und in seinen Rucksack griff, um seine Frühstücksbrote herauszuholen, musste er feststellen, dass er vergessen hatte, sie zu schmieren, etwas, das ihm noch nie passiert war. Dann sah er auch noch die Sekretärin auf seinen Tisch zukommen, und ahnte, dass sie ihn wieder wegen der Druckerpatronen von der eigentlichen Arbeit abhalten würde. Dies drohte definitiv ein Scheißtag zu werden!
Falk flüchtete zur Toilette und schloss sich in eine der Kabinen ein. Während er die Musik auf seinem Player durchging, musste er wieder an die Geschehnisse des gestrigen Abends denken. Und selbst als er sich eine ordentliche Playlist zusammengestellt hatte und sich, die Kopfhörer im Ohr, wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, blieb ihm immer noch ein Detail im Sinn: die beiden Zeichen, die auf dem Schwert eingraviert waren.
Das eine war dasselbe runde wagenradähnliche Zeichen, welches auch an dem alten Haus unter dem Giebel angebracht war. Das andere Zeichen war ein einfacher Buchstabe: ein „A“, in einem Kreis, ohne Schnörkel bis auf die horizontalen Standfüße an den unteren Enden und einem etwas verbreiterten rechten Arm, der sich nach links über den schmaleren Arm hinüberschwang. Und Falk hatte das ganz starke Gefühl, dass er dieses Zeichen kannte.
*
Falk näherte sich dem Dönerimbiss in der Karl-Liebknecht-Straße und sah seine Kollegen, die schon vorgegangen waren, drinnen sitzen. Als EDV-Verantwortlicher der Firma hatte er sich normalerweise den ganzen Tag mit den technischen Problemen seiner Kollegen herumzuärgern, aber heute, und das war wesentlich schlimmer, auch mit denen seines Chefs, der noch nicht im Zeitalter des Internets angekommen zu sein schien. Und die schwerwiegendsten Probleme bekam sein Chef grundsätzlich mittags um kurz vor zwölf, und nachmittags um halb fünf.
Falk überquerte die Straße. Ein paar Autos hupten, da er sich dabei viel Zeit ließ. Er hatte noch nie verstanden, wieso manche Menschen immer so schnell gingen. Er schlenderte lieber. Er genoss ein paar warme Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Den Kapuzenpullover hatte er sich trotzdem übergezogen, es war immer noch frisch.
Sein Zimmernachbar Ralf, der neue Auszubildende aus der Abteilung Hochbau, und die Sekretärin saßen dicht gedrängt auf Barhockern an einem der kleinen runden Tische in dem Imbiss, und verzehrten ihre Döner. Es gab keinen Hocker mehr, und Falk stellte sich mit einer Dürumrolle dazu. Sie gingen für gewöhnlich freitags zum Döner, da sie an diesem Tag eine kleinere Runde waren. Viele Kollegen machten schon früher Feierabend, und zu viert passten sie so gerade an einen der Stehtische. Wie immer lag eine Zeitung aufgeschlagen darauf, und jeder versuchte, die anderen mit einer übertriebeneren Schlagzeile zu übertrumpfen.
„’Kanzlerin jetzt Veganerin’“, las Saskia, die Sekretärin vor.
„’Modezar feiert Orgie in Potsdamer Villa’“, deklamierte Ralf, und dann: „’Festgenommen werden eine Reihe Minderjähriger, drei stadtbekannte Transvestiten und die Großmutter des bekannten Modeschöpfers’! Die Großmutter? Meine sitzt zu Hause und strickt Socken, und in Potsdam feiern sie Orgien!“
„Woher weißt du das so genau?“, meinte Falk und biss so herzhaft in seine Rolle, dass die Soße raustropfte. „Vielleicht feiert sie ja auch mit.“
Der Azubi hatte auch etwas gefunden:
„’Klimawandel zwingt Pinguin, seinen natürlichen Lebensraum zu verlassen’“, rief er aus, und deutete auf das körnige Foto eines der schwarz-weiß gefiederten Tiere, welches auf einem Schneehügel hockte, während im Hintergrund eine felsige Küste zu sehen war, die wenig einladend aussah.
Einen Moment schwiegen alle, dann sagte Saskia geduldig:
„Das ist nicht lustig, Kenni“
„Vor allem ist das Quatsch.“, befand Falk. „Pinguine fühlen sich in solchen Gegenden pudelwohl. Sie brauchen steinigen Untergrund, daraus bauen sie Nester für ihre Eier.“
„Echt jetzt? Ich dachte, die buddeln sich Höhlen im Schnee.“, meinte Saskia.
„Zeig mal das Bild vom Bikinimädchen.“, verlangte Ralf, und sie ließen das Thema fallen, und widmeten sich ihrem Essen.
Auf dem Rückweg sprachen sie über eine weitere Schlagzeile, sie die im Lokalteil gefunden hatte. Ein älterer Mann aus einem Dorf bei Weimar hatte den Hauptgewinn der Jahresverlosung der Zeitung gewonnen, und die Hälfte seines Gewinns an eine Stiftung gespendet. Sie hatten sich darüber ausgetauscht, ob sie auch so großzügig wären, und waren zu der Übereinkunft gekommen, dass es wohl auf die Größe des Gewinns ankäme.
An der Firma angekommen rauchten Saskia und Ralf draußen noch eine Zigarette. Falk blieb bei ihnen stehen, nicht gerade erpicht darauf, wieder ins Büro zu kommen. Er hatte den anderen nicht gesagt, dass er sich als allererstes ein Auto kaufen würde. Die hätten ihn nur ausgelacht, ihn, der noch nicht mal einen Führerschein hatte.
*
Erst kurz vor fünf am Nachmittag verließ Falk als einer der letzten die Firma. Er entschied, sich zur Abwechslung mal einen ruhigen Abend vor dem Fernseher zu gönnen. Zu Hause angekommen, räumte er ein paar Einkäufe, die er auf dem Nachhauseweg besorgt hatte, in den Kühlschrank, der bis auf ein angebrochenes Paket Butter, eine Salami und verschiedene Senf- und Ketchupsorten leer gewesen war. Er riss eine große Tüte Chips auf und begab sich damit ins Nebenzimmer.
Ursprünglich hatten sie den Raum als Wohnzimmer nutzen wollen. Momentan standen hier aber nur eine Couch, eine stachelige Agave und ein Fernseher. Weitere wohnliche Möbel fehlten, dafür lehnte Roberts Rennrad an der Wand und über einem Wäscheständer hingen Falks dreckige Fußballstutzen. Auf dem Boden, der, genau wie in den anderen Zimmern der Wohnung, mit unbehandelten Dielen ausgelegt war, lagen außerdem eine Gewichtstange und zwei Hanteln, zusätzliche Gewichte zum Verschrauben, mehrere Fußbälle, ein Volleyball, Falks alter Hockeyschläger und ein Staubsauger.
Falk warf sich aufs Sofa und schon sich gedankenverloren ein paar Chips in den Mund. Sein Blick wanderte zu Roberts Zimmer nebenan. Die Tür stand weit offen. Sein Freund hatte die Wände vollgehängt mit Postern von Schauspielerinnen und Models, die sich halbnackt an Stränden, in Werkstätten oder auf Kühlerhauben von Sportwagen räkelten. Auf einem Regalbrett an der Wand gleich gegenüber der Tür standen, vom Wohnzimmer aus gut sichtbar, verschiedene kleine und größere Pokale; einige Medaillen hingen darunter. Robs war früher Turner gewesen, hatte dann zum Fußball gewechselt und sogar eine Weile beim Fußballverein Carl-Zeiss-Jena in der Nachwuchsgruppe mittrainiert. Die O-Beine hatte er seitdem immer noch. Mittlerweile studierte er Sport und Mathe auf Lehramt. Robs würde einmal ein guter Lehrer werden, streng, aber trotzdem ein Kumpeltyp, dachte Falk.
Er selber hatte früher Hockey gespielt, jedoch irgendwann das Interesse daran verloren, als er jedes Wochenende zu Spielen fahren musste, die seine Mannschaft für gewöhnlich verlor. Jetzt kickte er regelmäßig mit Robs und den anderen Jungs Fußball auf einem der öffentlichen Bolzplätze oder bei ihrer ehemaligen Schule. Die Idee, ein eigenes Turnier zu veranstalten, war ihnen an einem Abend bei Konrad gekommen, als sie einmal mehr viel zu viel Bier und den selbstgepanschten Likör von Konrads Freundin getrunken hatten. Sie hatten vor, es wie eine kleine Liga aufzuziehen, es sollte Hin- und Rückspiele zwischen den Mannschaften geben, Punkte und eine Tabelle wie in der Bundesliga, und zusätzlich, um die Spannung weiter aufzubauen, noch eine Finalrunde nach Vorbild des DFB-Pokals. Das Problem war nur, dass sie hierfür sie einen Platz brauchten, an dem die Spiele regelmäßig stattfinden konnten.
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