Yvonne hob ihr Glas und genehmigte sich einen herzhaften Schluck. „Willst Du eigentlich auch was?“ schob sie etwas unvermittelt ein, wobei das ‚Was’ ganz unklar eine Weile im Raum schwebte. Frank schüttelte nur den Kopf: „Und war es, wie soll ich sagen, praktisch so vorher oder nachher, daß er starb?“ Yvonne lächelte, dies sogleich verstehend, fragte aber spielerisch, ein wenig die Obszönität auskostend, nach: „Du meinst vor oder nach dem Abspritzen?“ Während Frank schmerzlich nickte, zerstoben all seine unschuldigen Emmanuelle-Träumereien, und er sah doch jählings nur eine irgendwie plötzlich völlig alltäglich wirkende und an der Grenze zum Altwerden stehende Frau vor sich, die mit all ihrem gezierten Französisch- und womöglich (für ihre ‚westliche’ Kundschaft) Geisha-Getue doch nur notdürftig ihre abgründig-banale Existenz (und die ihrer ‚Kunden’) übertünchen konnte. „Nun“, ließ sie verlauten und dehnte das ‚U’, „ich glaube er starb schon vorher, vor dem Abspritzen. Und warum fragst du?“ „Nur so“, entgegnete Frank. Warum er das gefragte hatte, das wußte er im Grunde nicht so genau. Vielleicht weil er Slim einen schönen Tod, inmitten der Wollust, gewünscht hatte? Dann gab es nichts mehr zu sagen; Frank starrte einen Augenblick die kahle, weiße Wand in Yvonnes Apartment an, stand dann auf, gab ihr seine Visitenkarte, auf der nur sein Name und eine Telefonnummer stand. „Wenn noch was sein sollte oder ihnen noch was einfällt, bitte rufen Sie mich an!“, sagte er und fügte hinzu: „Kann ich Sie später irgendwie erreichen?“, woraufhin Yvonne ihm ein Kärtchen mit einer Adresse in Lyon gab. Frank verabschiedete sich, ging aus der Wohnung, auf die Straße, winkte sich ein Taxi herbei und drückte dem Fahrer stumm die Visitenkarte des Bestattungsunternehmens in die Hand, der daraufhin ein äußerst betretenes Gesicht machte und Frank schweigend dorthin brachte.
Problemlos wurde Frank in das Bestattungsgeschäft eingelassen; er erkannte auf Anhieb den Japaner wieder, der ihm die Visitenkarte gegeben hatte. Man führte Frank durch eine Art Empfangs- oder Besprechungszimmer in ein Hinterhaus, wo der Sarg keineswegs aufgebahrt, sondern mitten im Raum einfach auf dem Boden stand. Er war noch verschlossen, und man machte sich ohne zu zögern daran, ihn zu öffnen. Als er geöffnet war, verließen die Angestellten schweigend und sich ein wenig zu Frank hin verbeugend den Raum. Frank trat näher an den Sarg. Er sah darin eine äußerst fetten Mann liegen, Mitte, Ende 50, dem man ein weißes Totenhemd übergezogen hatte, was aber äußerst knapp saß, sich straff über dem mächtigen Bauch spannte und die Beine fast bis zu den Knien freiließ. Frank zweifelte keinen Augenblick daran, daß es sich bei dem Toten um Slim handelte (dessen richtigen Namen er immer noch nicht kannte). Slims Kopf war ein wenig zur Seite geknickt, die Augen hatte man ihm geschlossen; der Mund stand offen und hätte dem ganzen Gesicht einen lächerlichen, ja geradezu blödsinnigen Ausdruck gegeben, wenn nicht die nun vollkommen aschfarbene Haut, die in dicken Wülsten die Backen formte und schlaff herunterhing, diesem Gesicht das doch stets ein Grauen hervorrufende Gefühl des Totseins gegeben hätte. Frank berührte leicht mit seiner Hand die kalte Stirn des Toten, murmelte leise vor sich hin: ‚Wer lauschte die Sprache der Seele mit den Verwesungen?’, Zeilen, die er sich aus irgendeiner längst vergangenen und – bis auf diese wenigen Worte – vergessenen Lektüre einmal gemerkt hatte, nahm dann seine kleine Kamera, die er meistens bei sich trug, aus der Tasche und machte einige Photos von Slim, die er seinem Bericht anfügen wollte. Nachdem er dies getan hatte, sah er seinen Auftrag als erledigt an. Nichts gab es für ihn mehr weiter zu tun.
Frank hatte schon einige Leichname in seinem Leben gesehen – das brachte sein Beruf mit sich, aber immer war ihm der Anblick und vor allem der leicht süßliche Geruch von Toten (oder war das irgendeine Substanz, mit der man sie wusch oder konserviert?) recht unangenehm. So wollte er eigentlich augenblicklich wieder diesen Raum verlassen, trat schon ein wenig vom Sarg zurück, als ihm einfiel, daß es – wie er einmal gelesen hatte – in Japan üblich sei, daß die Angehörigen eine ganze Nacht lang bei ihrem Verstorbenen ausharren, um so vielleicht der Seele einen leichteren Abschied zu ermöglichen. Vielleicht erwartete man hier von ihm eine gewisse Zeit des Ausharrens bei dem Toten? Eine ganze Nacht würde er sicherlich nicht hier verbringen ... immerhin beschloß Frank zumindest eine Viertelstunde einfach an diesem offenen Sarg stehenzubleiben – und schielte deshalb auf seine Uhr, um wirklich diese Viertelstunde (und nicht viel länger) abzuwarten. Und gerade als er dieses mühselige Geschäft des Wartens auf sich nehmen wollte, trat, leise von hinten kommend, der Japaner, mit dem er eben zu tun gehabt hatte, zu ihm (beinahe so als habe er Franks Zurücktreten vom Sarg und sein Schielen auf die Uhr beobachtet), verharrte wenige Momente schweigend neben ihm und fragte ihn dann leise auf Englisch, ob er den werten Verstorbenen kenne, womöglich mit ihm verwandt sei, man habe da nämlich ein Problem mit den Beerdigungskosten, es sei zwar jetzt mehr als unpassend darüber zu reden, aber ...’ Frank wandte sich dem Mann zu, sehr froh darüber, der Warterei entgehen zu können und einen Vorwand gefunden zu haben, diesen ungemütlichen Ort zu verlassen. „Let’s talk outside“, sagte er, bemüht nicht allzu erleichtert zu klingen.
Man ging zusammen in das Empfangszimmer und, im Stehen, erklärte Frank, daß er nur ein weit entfernter Freund, ja eher nur ein Bekannter sei, der jüngere Bruder eines Schulfreundes des Verstorbenen. Sein Bruder habe ihn beauftragt, den Verstorbenen zu besuchen, nur um Grüße zu bestellen; dieser Tod sei ja so überraschend gekommen. Er müsse gleich seinen Bruder anrufen und fragen, ob der Verstorbene Familie habe, die dann ja für die Beerdigungskosten verantwortlich seien. Ansonsten müsse man sich eben an die deutsche Botschaft wenden. Das sagte Frank nahezu schon im Weggehen, denn er wollte sich natürlich nicht weiter in diese Beerdigungsangelegenheit verwickeln lassen. Nur – damit war der Japaner überhaupt nicht einverstanden; besonders der Hinweis auf die Botschaft schien ihm gar nicht zu behagen. So, Frank regelrecht ein wenig in den Weg tretend und andeutungsweise sogar die Türe des Geschäftes blockierend, durch die Frank nunmehr eigentlich schnell hatte entschlüpfen wollen, setzte er zu einer längeren Rede an: Obwohl er, also der werte Herr Freund des werten Herrn Verstorbenen, nur ein, wie er deutlich gemacht habe, entfernter Freund des werten Herrn Verstorbenen sei, so sei er, dessen ungedacht, gleichwohl der einzige Mensch hier in Tokio oder auch vielleicht in ganz Japan, das heißt weit und breit, der in irgendeiner persönlichen Art der Beziehung zu dem werten Verstorbenen stehe – dem könne, ja müsse er zustimmen, nicht wahr? Frank sagte, daß er dies nicht wisse und weder bestätigen noch verneinen könne, was jedoch der japanische Bestattungsunternehmer einfach eifrig nickend anscheinend als Bestätigung seiner Vermutung aufnahm und Frank, eindringlich anblickend, ins Gewissen redete: Er, der werte Herr Freund, dessen Name er eigentlich überhaupt noch nicht kenne, sei letztendlich der einzige Mensch hier, der wirklich für diesen Toten verantwortlich sei. Die Botschaft – das sei nur eine große, anonyme Behörde, mit der könne man gar nicht, so wie jetzt mit ihm, reden. Deshalb wolle er, der er die ehrenvolle Aufgabe übernommen habe, diesen Toten in Würde zu bestatten – oder womöglich in seine Heimat zu überführen, wie es gewünscht werde –, nicht mit der Botschaft verhandeln, sondern ihn, den werten Herrn Freund, inständig und persönlich bitten, sich der Regelung der Angelegenheiten dieses werten Herrn Verstorbenen anzunehmen.
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