Emmanuelle, die ‚Frenchgeisha’, wie sie sich nannte, um damit zugleich ein westliches wie östliches Publikum anzusprechen, hieß in Wirklichkeit Yvonne Pahud, war etwa dreißig Jahre alt und stammte aus Lyon, wie sie Frank später bereitwillig erzählte. Sie war überhaupt sehr gesprächsbereit, war vielleicht einmal froh, ihre professionelle Rolle einer (zunächst) distinguierten Unterhaltungsdame, die sich dann in eine ‚exotisch-erotische’ Französin (für ihre östliche Klientel) bzw. in eine halbwegs ‚exotisch-erotische’ Geisha (für ihre westliche Klientel) verwandeln mußte, verlassen zu können. Sie kam, wie sie Frank im nüchternen Ton sagte, jährlich für einige Monate ‚zum Arbeiten’ nach Tokio. ‚Und in der restlichen Zeit des Jahres kannst du es es dir mit dem in dieser Zeit verdienten Geld in Frankreich gut gehen lassen’, dachte Frank, allerdings ganz ohne Neid und ganz ohne Bewunderung für diese Art der Lebensorganisation.
Yvonne war dafür, daß vor wenigen Stunden ein Mensch in ihrer Gegenwart, womöglich sogar in ihren Armen gestorben war, ausgesprochen ruhig und entspannt. Ihre Gesichtszüge waren recht gleichmäßig: eine zierliche Nase, große braune Augen, ein weder zu kleiner, noch zu großer Mund, ein vielleicht etwas spitzes Kinn; jetzt, wo sie ohne Schminke und Lippenstift war, hätte man sie nicht unbedingt für schön halten müssen, aber es war durchaus denkbar, daß sie sich in eine – für dafür bereite Sinne – ‚Schönheit’ verwandeln könnte. Sie war schlicht gekleidet, mit einer einfachen weißen Bluse und einem in der Tat extrem kurzen schwarzen Rock. Auf Frank machte sie, obwohl sie vergleichsweise fließend auf Englisch mit ihm parlierte, doch einen sehr französischen Eindruck, was jedoch nicht viel besagte, da er nur die gröbsten Vorstellungen vom ‚Französischsein’ und ‚Französischaussehen’ hatte (und es im Grunde auch nur auf Frauen bezog): Natürlich war für ihn Emmanuelle, die Emmanuelle des Films (bzw. der Emmanuelle-Filme, die ja eine ganze Serie bildeten und auf die Yvonne bei ihrer Namenswahl bestimmt zurückgegriffen hatte), zum Inbegriff des ‚Französischaussehens’ geworden (obwohl er in irgendeiner Illustrierten einmal gelesen hatte, daß die Schauspielerin, die die Rolle der Emmanuelle in den ersten beiden oder ersten drei Filmen dieser Serie gespielt hatte, die für ihn die einzige ‚Emmanuelle’ verkörperte, eigentlich eine Holländerin namens Sibylle oder Sylvia oder so ähnlich war).
Er hatte diesen ersten aller Emmanuelle-Filme (und im Grunde zählte für ihn nur dieser eine) in seiner Jugend einmal in Paris gesehen; sogar in einem Kino am Champs-Elysées, der damals noch die Aura einer Prachtstraße hatte. Damals war er zuweilen ganz allein von der kleinen, nicht weit von der französischen Grenze entfernt liegenden deutschen Stadt, in der er studierte und behaglich mit seiner gutherzigen Freundin hauste, in diese große, verlockende Metropole aufgebrochen. Seine Begründung gegenüber der Freundin für diese etwas ungewöhnlichen Reisen war es stets gewesen, die Vorlesungen eines berühmten Philosophen, die in Paris, am Collège de France, öffentlich stattfanden, zu hören (und natürlich versäumte er es nicht, sie zu besuchen, wenn er, bei seinen geringen Französischkenntnissen, auch nicht viel verstand), doch darüber hinaus suchte er in jener großen Stadt alle möglichen Abenteuer und Vergnügungen. Aber meistens blieb es bei der Suche oder das Abenteuer erschöpfte sich in solch harmlosen Vorgängen wie z.B. dem Besuch eines wahrlich – vom heutigen Standpunkt aus betrachtet – recht unschuldigen Filmes. Wie immer ‚harmlos’ und ‚banal’ dies alles gewesen sein mag, dieses Kino-Erlebnis war zumindest so einprägsam gewesen, daß ihm dies jetzt in den Sinn kam; und es überschattete in einer ihm nicht völlig durchsichtigen Weise seine Einschätzung der gegenwärtig vor ihm sitzenden Frau, die nun die Beine übereinander schlug und, etwas affektiert, ein mit Rotwein gefülltes Glas leicht mit der rechten Hand auf der Sessellehne balancierte (liebte sie das Risiko? Rotwein macht doch scheußliche Flecken!). Diese so vor ihm sitzende Frau erinnerte Frank plötzlich in einer fast unheimlichen Weise an die echte/unecht-französische Film-Emmanuelle ,wobei ihm angesichts der Überlagerung der verschiedenen Bezeichnungen, Namen und damit verbundenen Bedeutungen von Frenchgeisha/Yvonne/Emmanuelle/Sibylle oder Silvia (oder auch anders) ein wenig schwummrig wurde. Oder war es diese Pose, die Yvonne/Emmanuelle (womöglich den Film bewußt zitierend?) zum besten gab, die ihn ein wenig aus dem Konzept brachte: Die Art des Übereinanderschlagens der Beine; nur um ein weniges hätte Yvonne ihr rechtes Bein, welches momentan fest auf dem linken lag, hinaufschieben mögen (ihr Rock war einfach zu kurz!), um dadurch - wenn sie denn keinen Slip tragen sollte!! - die Öffnung ihres magischen Ortes (den einmal ein Maler den Ursprung der Welt genannt hatte) zu betreiben, gerade jene Öffnung, die die Film-Emmanuelle kurz anbot, um sie sogleich wieder mit einem (den Gegensatz hervorhebenden) langen Rock zu bedecken, der gleichwohl zumindest einen Blick auf ihren Oberschenkel bot: Ein ikonisches Bild-Zeichen, an dem sich vor vielen Jahren Franks jugendlich-unschuldige Phantasie weniger erregt als vielmehr erst einmal überhaupt gebildet hatte: Das Pagenköpfchen Emmanuelles und die trotzigen, ein wenig geschürzten Lippen, die unendliche Lust einklagend, die anscheinend allein der Wechsel ins Exotische herbeizaubern könne. Das war die Verführung gewesen, wenn auch nur eine kinematographische. Heute, im Porno-Zeitalter, waren diese Emmanuelle-Filmchen natürlich nur fast lächerliche Beispiele einer fast unschuldigen Erotik längst vergangener Zeiten, die aber immerhin womöglich für eine ganze Generation (eben die mittlerweile älter gewordene, zuweilen nicht unvermögende Generation, die diese Yvonne/Emmanuelle hier als ihre potentielle Kundschaft sicherlich im Blick hatte) prägend gewesen war; das war vielleicht in Japan nicht anders als in Europa. Doch Frank wollte eigentlich seine Gedanken weder in erotische, noch kinematographische und schon gar nicht erotisch-kinematographische Gefilde abschweifen lassen; schließlich hatte er einen Job zu tun, sollte etwas über Slim herausfinden, um zumindest seinen Bericht an die Zentrale – zur Rechtfertigung seiner Reisespesen – schreiben zu können. Also versuchte er sich erneut auf Yvonne zu konzentrieren, allerdings unter der Perspektive, was wohl ein Mann wie Slim, von dem er in der Tat nur die gröbsten Vorstellungen hatte, an ihr gesehen, was ihn vielleicht angezogen und dazu gebracht hatte, sich bei ihr in einer solchen Weise zu verausgaben, daß es ihm sein Lebenslichtlein ausblies. Yvonne betrachtend, konnte er jedoch kein Gefühl für Slim und seine Leidenschaften gewinnen; schließlich versuchte er sie über Slim auszufragen, nur wußte sie von ihm so gut wie nichts: Er hatte sich auf ihre Kleinanzeige – sie hielt sie Frank leicht spöttisch zum Lesen hin: ‚French Geisha. Extremley sweet wishes to meet serious gentlemen for delightful experiences (Japanese and Caucasian welcome)’ – mit einigen nichtssagenden Sätzen gemeldet, geschrieben unter einer anonymen E-Mail-Adresse, die sie mit eben so nichtssagenden, professionell-zärtlichkeitsversprechenden Sätzen („I will take good care of you, sweet kisses“) beantwortet hatte, um daraufhin für den heutigen Tag einen Termin auszumachen. Slim, so dachte Frank, schien augenscheinlich kein Anhänger der Sadomaso-Fraktion gewesen zu sein, sondern eher auf ‚sweet kisses’ gestanden zu haben – immerhin eine Erkenntnis, oder?
Frank fragte: „Und wie hat er sich bei Ihnen vorgestellt?“ Yvonne lächelte: „Vorgestellt?“ und dehnte das ‚O’ so, daß es irgendwie komisch klang, „Weißt Du, bei mir stellen sich die Typen eigentlich nicht direkt vooor. Die murmeln meist irgendeinen erfundenen Namen, ich glaube, er sagte Tom oder Tim oder so was, ich hab’s vergessen, aber frag’ mal die Bullen, die wissen das, die haben seinen Paß.“ Frank nickte und fragte weiter: „Ja, und wie war er hier?“ „Du stellst vielleicht Frage ..., na ja, ganz normal“, antwortete Yvonne. „Er kam, zahlte, wir fickten“ (Frank mußte ein wenig gequält über diesen Ausflug Yvonnes ins Vulgäre lächeln, die ihn dabei abschätzend ins Auge faßte) „und dann fing er plötzlich komisch zu zucken an, und dann war er tot. Mann, das ist vielleicht eine Scheiße gewesen.“ „Und das hast du genauso der Polizei erzählt?“ Frank konnte das nicht glauben, da Prostitution in Japan offiziell verboten und deshalb im übrigen ein blendendes Geschäft für einige war. „Mann“, rief Yvonne mit künstlich-übertriebener Stimme aus, „ich bin doch nicht blöde! Die Polizei interessiert sich für nicht so viel, schon gar nicht, was die gaijin untereinander treiben; du mußt nur die Spielregeln einhalten. Ficken – ok, eben ohne Geld. Dieser Slim, war halt ein Spontanfick; die Bullen glauben’s natürlich nicht, aber sind zufrieden.“ Tatsächlich waren Frank vorhin im Treppenhaus drei Japaner in unauffälligen Regenmänteln begegnet, die eifrigst an ihm vorbeigeblickt hatten.
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