Gerne aber hätte er zumindest einen Kaffee getrunken, doch da er lediglich Euro und Yen und keine britischen Pfund in der Tasche hatte (daß man sich überhaupt nach wie vor eine eigene, kleine Währung halten konnte!), und auch seine Kreditkarte für so kleine Beträge nicht akzeptiert wurde, verzichtete er darauf. Er setzte sich irgendwo hin und sah den vorbeiströmenden Menschen in dieser jetplane world zu: den Flughafenangestellten, denen ihre Plastikausweiskärtchen fröhlich um den Hals baumelten, den chic gekleidet Geschäftsleuten mit ihrem einheitlichen, nationenübergreifenden ‚professionellen’ Gesichtsausdruck, den Jungen und Mädchen in ihren T-Shirts mit den – sicherlich immer um Originalität bemühten – lustig-schockierenden Aufdrucken und Slogans; viele telefonierten, einige fuhren in den Urlaub, andere kehrten zurück. Einige Paare hielten sich an den Händen fest, sich einander Halt gebend in dieser auseinanderfließenden Transitwelt; Arbeiter in gelben Jacken durchquerten zielstrebig das Gebäude. Sogar die typische (fast schon karikaturistisch-typische) japanische Reisegruppe fand sich ein, bestehend aus zumeist älteren, alleinstehenden Frauen und einigen Ehepaaren (deren männlicher Teil es also irgendwie geschafft hatte, sich am Leben zu erhalten, während die Mehrzahl seiner Altersgenossen bereits, ausgelaugt vom mörderischen Arbeitsleben, das Zeitliche gesegnet hatte); alleinstehende Männer gab es nicht, abgesehen von dem jungen Reiseleiter, der als einziger ‚korrekt’, das heißt mit Anzug und Krawatte, auftrat, während alle anderen im einheitlichen Freizeitlook gekleidet waren; etwas, was man vor einigen Jahren noch nicht hätte sehen können, als die Japaner, zumindest die japanischen Männer, selbst in ihrer kärglich bemessenen Urlaubszeit – und besonders im Ausland! – wie die Büroangestellten auftraten.
Frank gegenüber saß ein älterer Engländer, der ein wenig verbittert wirkte und in seine Zeitung vertieft war, während seine Ehefrau, die einen recht lebhaften Eindruck machte, ihre Kreise durch die Geschäfte zog, um sporadisch bei ihrem Gatten aufzutauchen, sei es um nachzusehen, ob ihn nicht schon (endlich?) ein Herzschlag dahin gerafft habe, sei es um von Zeit zu Zeit eine Anlaufstation zu haben. Der Terminal war mit Menschen dicht angefüllt; in einigen besonders beliebten Geschäften drängten sich die kauflustigen Reisenden regelrecht; zuweilen durchkreuzte ein phantastisches Gefährt dieses Gewimmel: Ein Sikh, mit Turban und prächtig-grauem Bart, eine durchaus imposante Gestalt, steuerte ein komisches Gefährt, eine Art Mini-Auto, um kranke und alte Passagiere herumzufahren. Langsam kroch auf der Anzeigetafel Franks Flug nach oben. Bald würde er in Japan sein, einer, nach diesem Gewusel hier, ungleich homogeneren Welt, wie er wußte, da er schon oft dort gewesen war. Nicht ohne einen kleinen Hauch von Traurigkeit verabschiedete Frank sich innerlich von dieser bunten europäischen Szenerie, um zu seinem Fluggate zu gehen, welches endlich auf der Anzeigetafel erschienen war und von dem aus wenig später sein Flugzeug startete.
Glücklicherweise fiel er gleich nach dem Abflug in einen leichten Schlummer (er hatte als erstes im Flugzeug hastig ein Bier getrunken), aus dem er erst hochschreckte als sich das Flugzeug über dem schneebedeckten Sibirien befand. Wie so oft kurz nach dem Erwachen fühlte er sich unwohl. Kroch gar ein Gefühl der Angst in ihm hoch? Doch nur für einen Augenblick, dann wurde er durch das stetige, unverständliche Gemurmel seiner Nachbarn – später, als sie die Einreisekarten für Japan ausfüllten, sah er an ihren Pässen, daß es Bulgaren waren, Sportfunktionäre – irgendwie beruhigt, so daß er eine Zeitlang weiterdämmerte; mit dem nahezu ungenießbaren Essen und verschiedenen schwachsinnigen Filmen vertrieb er sich die restliche Flugzeit.
Die Ankunft am Flughafen in Tokio war für ihn Routine: die große, kühle, hypermoderne Halle des Flugplatzes, die desinteressierten Japaner, ihre kühlen Begrüßungen untereinander (ein kleines Lächeln, eine knappe Verbeugung für ihre zurückkehrenden Partner, Freunde oder Verwandten, die sie vielleicht wochen-, monatelang nicht gesehen hatten), die Ausländer, die erstmalig in Japan ankamen und hilflos umherstolperten bis sie schließlich, mit süßlich verzückten Gesichtern, auf die ihnen so exotisch-wunderhübsch erscheinenden Japanerinnen an den Informationsschaltern einreden konnten. Auch er, ja auch er war hier einstmals so gestanden! Und dann gab es noch die Profireisenden, die ohne Umschweife ihren Weg fanden, und zu denen sich Frank seit einigen Jahren schon zählen durfte. Schnell entfernte er sich aus der Ankunftshalle, in der er nicht zum ersten Mal das Gefühl bekam, beobachtet zu werden (auch diesmal wieder hatte ihn ein stechender Blick direkt körperlich getroffen, der von irgendwo her aus der Menge ausgegangen war). So eilte Frank fast die Treppen zu den Zügen hinunter, kaufte sich eine Fahrkarte am Automaten und eine in Tokio erscheinende englischsprachige Zeitung am Kiosk, die er während der Zugfahrt las, fast ohne auch nur einmal aus dem Fenster auf den Stadtmoloch zu blicken, der sich ihm, je weiter der Zug rollte, gleich einer zweiten Haut dichter und dichter anschmiegte, bis er zuletzt davon vollkommen umschlossen war. Am Zielbahnhof angekommen, stieg er in die Yamanote-Kreisbahn um, fuhr ein paar Stationen weiter, stieg aus, ging ein paar wenige Schritte, seinen Koffer auf den Rollen nach sich ziehend, zu seinem Hotel, wo er problemlos sein vorbestelltes Zimmer bekam. Hier war er schon oft abgestiegen, man kannte ihn; es wurden keine Fragen gestellt.
Im Hotelzimmer – es war im Grunde nur ein schmaler Schlauch, ein Bett, ein Fernseher, der die Hälfte eines an die Wand gequetschten Schreibtisches okkupierte – duschte Frank sich zunächst ausgiebig in diesem rundum mit Plastik verkleideten Bad (das ganze Bad, also auch die Toilette und das Waschbecken, war eine umfassende Duschkabine), in dem er sich immer wie ein Astronaut vorkam. Dann legte er sich aufs Bett, benommen vom Flug und der Zeitumstellung. Er war noch heller Vormittag; draußen hatte die grelle Sonne am wolkenlosen Tokioter Himmel ihn geblendet, hier im Zimmer, hinter den getönten Scheiben, war es fast zu düster. Wie stets nach so einem langen Flug fühlte Frank sich plötzlich ganz hungrig – oft aß er als erstes in Tokio tempura soba – und beim Gedanken daran, steigerte sich sein Hunger so, daß er sich unverzüglich, nach wenigen Minuten der Ruhe, wieder zum Ausgehen fertigmachte.
Ziellos schlenderte Frank los. Er kannte diese Gegend von früheren Aufenthalten ein wenig, aber so schnell veränderte sich in dieser Stadt alles, daß er sich kaum mehr orientieren konnte. Es war ein strahlend-klares Wetter, ein hellblauer Himmel. Auf einer Kreuzung, nicht weit von seinem Hotel, röhrte ein schneeweißer Ferrari im Stau; ein Werbeplakat – wofür es warb, konnte Frank allerdings nicht entschlüsseln – trug den Slogan Motto Aura o – wie wäre das zu übersetzen? Einfach als: Mehr Aura oder: Let’s have more aura . Worum ging es da? Bestimmt war es nur der Wohlklang dieses Wortes, welches es werbefähig machte. Frank bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmassen, den Lärm, Gestank, die schreiende Reklame. Jeder Zentimeter wurde genutzt – ein total gefüllter Raum. Jetzt befand er sich in einer überdimensionierten Einkaufspassagen, die er durchquerte, um danach in ein Gewirr kleiner Gassen, überspannt von schreiender Leuchtreklame, einzubiegen. Schließlich fand er die ‚Vergnügungstraße’ mit dem schönen Namen romansu dori / ‚Romantische Straße’ wieder, in der sich die eher zweifelhaften Etablissements, wie Sex-Shops und Massage-Salons, reihten.
Frank kam angesichts dieses Straßennamens auf den Gedanken, daß dies eine durchaus ernsthafte japanische Vision oder Version der Romantik sein könnte – und dann wäre an diesem Ort die ‚romantische Illusion’ doch einer harten Bewährungsproben ausgesetzt. Und er mußte weiter unwillkürlich an seinen letzten Aufenthalt hier denken, bei dem er sich – es war auch direkt nach dem langen Flug gewesen –, enthemmt von einigen zu schnell getrunkenen Bieren und einer kleinen Flasche Sake, zu einem Besuch in einem dieser Massage-Salons hatte verleiten lassen – und dort eine eher unerquickliche Dreiviertelstunde mit einer übelgelaunten, übermüdeten, nach Zigarettenrauch stinkenden und gar noch etwas übergewichtigen chinesischen Masseuse verbringen mußte (in diesen billigen und den Ausländern zugänglichen Etablissements arbeiteten fast nur Chinesinnen), die ihn, nachdem sie ihn lustlos durchgeknetet hatte, dann letztendlich mit abgewandtem und gelangweiltem Gesicht, seinen Schwanz wichste. Das war der ‚Service’, den man dort erwarten konnte; und Frank hatte wirklich nicht vor, ein solches ‚romantisches’ Erlebnis zu wiederholen. Nun ja, bestimmt hatte man diesen Namen, romansu dori , vollkommen gedankenlos vergeben, irgendwelche vielleicht deutsche Vorbilder imitierend, um eine Art von Rummel zu bezeichnen. Und damit hatte man in gewisser Weise sogar recht! Doch Frank war durchaus bereit, verschiedene ‚Romantiken’ anzuerkennen; und er war keineswegs ein Kulturpessimist – er liebte vielmehr dieses Durcheinander, zumal das Undeutliche und Unverständige, denn er konnte beileibe nicht alle Anpreisungen, Reklamen und Hinweise lesen und verstehen; da war noch viel Raum für die Einbildung. Er hatte zwar in seinem Leben einige ‚ernsthafte’ Versuche unternommen, Japanisch zu lernen, war jedoch nie sonderlich weit damit gekommen. Vielleicht, so hatte er sich diese Serie von gescheiterten Versuchen einmal erklärt, gibt es da eine unzugängliche Kontrollinstanz in seinem Kopf, die das Lernen der Sprache verhindert, um die Geheimnisse ihrer Unverständlichkeit – dieses berühmte Rauschen der unbekannten Sprache – zu bewahren. Gleichwohl war das eine Erklärung bzw. Ausrede nur für besondere Gelegenheiten; meistens bekannte Frank sich ein, daß er ganz einfach nicht genügend Zeit und Energie fürs Lernen aufgebracht hatte, um nicht sagen zu müssen, daß er vielleicht ganz einfach fürs Sprachenlernen vollkommen unbegabt war. Aber da er schon seit vielen Jahren, ja schon mehr als ein Jahrzehnt Japanisch lernte, wenngleich mit großen Unterbrechungen und dann in jeweils neuen Anläufen, gleichsam immer erneut von vorne beginnend, hatte er durchaus, fast zu seinem eigenen Erstaunen, ein gewisses Sprachniveau erreicht, jedenfalls um im Alltag damit einigermaßen bestehen zu können.
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