Manchmal, wenn ich mit fiebrig heißem Kopf im Bett liege, mache ich mir Vorwürfe. Ich bin immer noch sichtbar, also wird meine Mutter für immer hier bleiben müssen. Aber manchmal, wenn es mir besonders schlecht geht und ich nur noch vor mich hindämmere, habe ich auch für kurze Zeit das Gefühl, dass alles normal ist. Ein krankes Kind, eine besorgte Mutter. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihr Kleines, und das wird schließlich wieder gesund, und alles ist gut, so ist es doch in den Büchern, den Filmen, die ich kenne, das ist normal, so soll es sein. Oder nicht?
Oft bringt mir meine Mutter Geschenke ans Bett, neues Spielzeug, Tonnen an Büchern, Plüschtieren, und um mich herum baut sich ein riesiger Wall auf, es ist so viel Zeug, dass ich kaum mehr Platz auf meiner Matratze habe. Pflichtschuldig spiele ich mit den Sachen, obwohl sie mich mit Ekel erfüllen, weil es mir eigentlich unangenehm ist, etwas geschenkt zu bekommen, denn jedes Ding, das ich besitze, zeigt, dass es mich gibt, und ich wünsche mir weiterhin nichts mehr, als dass es nicht so ist. Aber meine Mutter scheint zu hoffen, dass ich durch den ganzen Kram wieder gesund werde, als sei Krankheit etwas, das man abbezahlen müsse, ein wucherndes Gebilde, dem man nur durch magische Mittel beikommen kann.
An meinen Vater erinnere ich mich kaum, er ist in dieser Zeit so gut wie nicht vorhanden, er kommt nie an mein Bett, als habe er panische Ängste, sich bei mir anzustecken, aber manchmal höre ich ihn, wenn ich nachts vor Durst aufwache, dann dringen die Stimmen meiner Eltern plötzlich von unten zu mir herauf, lautstark. Eines Nachts macht meine Mutter meinem Vater wieder Vorwürfe, dieselben wie immer, du kümmerst dich gar nicht um sie, ist dir eigentlich egal, wie es ihr geht, du hast eine Familie, schon vergessen, ich mache seit Wochen nichts anderes, als sie zu pflegen, aber du kommst weiterhin nach Hause, wann es dir passt, ich kann nicht mehr, verstehst du, ist dir das überhaupt klar? Mein Vater brummelt daraufhin nur etwas Unverständliches, was dafür sorgt, dass die Tirade meiner Mutter neue Höhen erklimmen, sie fängt an zu weinen und schreit noch lauter als vorher, ich habe es total satt mit dir, am liebsten würde ich dich verlassen, wenn das Kind nicht wäre, hätte ich es schon getan, da sei dir sicher, ich wäre schon längst woanders, wenn du wüsstest, glaub ja nicht, dass ich dich nötig habe, jetzt sagt mein Vater nichts mehr, wahrscheinlich hat er seine undurchdringliche Miene aufgesetzt.
Schließlich kommt meine Mutter die Treppe herauf und setzt sich im Dunkeln an mein Bett. Als sie bemerkt, dass ich wach bin, schnieft sie laut, dem habe ich aber mal die Meinung gesagt, es kann doch nicht sein, dass er sich hier um nichts kümmert, er ist doch dein Vater, aber du scheinst ihm völlig egal zu sein, das war von Anfang an so, ich kann mich noch erinnern, als du geboren wurdest, da ist er auch ins Büro gefahren, weil er mir nicht glaubte, dass ich Wehen habe. Sie lacht kurz und bitter auf, und durch die Bewegung ihres Kopfes fällt plötzlich das Flurlicht auf ihr Gesicht, sie sieht verweint aus, aufgelöst, aber auf eine seltsame Weise auch irgendwie dankbar, dass ich ihr durch mein Kranksein eine Rechtfertigung gegeben habe, meinem Vater endlich einmal alles zu sagen. Fast alles.
Irgendwann fängt sich meine Mutter wieder. Und irgendwann steht wieder ein Mann in unserem Wohnzimmer, ich habe ihn schon vorher einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Er ist um einiges älter als meine Mutter, seine Haare oben auf dem Kopf sehen anders aus als an den Seiten, und er hat ein falsches Lächeln, unbeholfen tätschelt er mir auf dem Kopf herum, und ich bin froh, als meine Mutter sagt, ich dürfe nach oben gehen. Ich schließe meine Zimmertür, doch ich höre trotzdem ihr Lachen zu mir dringen, Jochen, sagt meine Mutter, du bist wirklich ein Charmeur.
Ich bin vor kurzem zehn Jahre alt geworden und gehe nun aufs Gymnasium. Es ist ein unüberschaubares Gebäude mit unzähligen Treppen, Fluren und Klassenzimmern, mit Tausenden von Kinderaugen, die mich prüfend musternd, sie merken sofort, dass ich nicht so bin wie sie, und anders als meine Mitschüler auf der Grundschule sind sie erbarmungslos deutlich in ihrem Urteil, ich verstecke mich vor ihnen während der Pause auf dem Klo und drücke mir die Hände auf die Ohren, um ihr hämisches Kichern nicht zu hören, trotzdem bekomme ich jeden Tag heftige Bauchschmerzen. Da sich diese neue Schule in einer zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernten Stadt befindet, fährt mich meine Mutter jeden Morgen dorthin und holt mich mittags wieder ab, das ist mühsam, für uns beide, denn sie ist eine sehr unsichere Fahrerin, und die Strecke über die Autobahn überfordert sie jedes Mal sichtlich, sie flucht und schreit und kriegt Schweißausbrüche, wenn sich ihrem kleinen Auto von hinten ein Lastwagen nähert, ich hasse diese Fahrten mit ihr.
Vielleicht aus diesem Grund, vielleicht aber auch, weil meine Eltern das Dorfleben inzwischen satt haben, beschließen sie eines Tages, in die Stadt zu ziehen, in eine Wohnung, die meiner Schule genau gegenüber liegt. Doch als mir meine Eltern von dem bevorstehenden Umzug erzählen, fange ich an zu weinen, ich liebe unser Haus, trotz allem habe ich gerne hier gewohnt, in meinem Zimmer hatte ich immer meine Ruhe, weil meine Eltern sich meistens im unteren Stockwerk aufhielten, in der neuen Wohnung wird alles auf einer Ebene sein, und ich werde nie mehr ungestört sein, das ahne ich schon so früh.
Aber meine Eltern haben ihre Entscheidung gefällt und außerdem beschlossen, dass ich während der Einpackerei nicht anwesend sein soll, sie kann doch ein paar Tage bei Jochen verbringen, schlägt meine Mutter vor, und da fällt mir plötzlich ein, woher ich ihn kenne: Er war einmal bei uns zum Essen eingeladen, er ist ein Geschäftspartner meines Vaters. Ja, warum nicht, brummt mein Vater ahnungslos, und so fährt er mich ein paar Tage vor dem geplanten Umzugstermin dorthin, ich weine und flehe, als ich im Auto sitze, aber mein Vater sieht mich nur genervt an, stell dich nicht so an, es sind doch nur drei Tage, und wenn ich dich dann abhole, ist dein neues Zimmer schon fertig eingerichtet. Doch ich will das nicht, ich will meine Sachen selbst ein- und wieder auspacken, ich will nicht umziehen, ich will nicht zu Jochen. Der hat auch eine Tochter, erwidert mein Vater, Anna, die ist acht, ihr könnt sicher schön miteinander spielen. Ich erstarre, wieso hat der auch eine Familie, das wusste ich nicht, davon hat mir vorher keiner etwas gesagt, den Rest der Fahrt über sitze ich stocksteif in meinem Sitz und kann nicht verstehen, was mit mir passiert, ich weiß nur, dass mir niemand Zeit gegeben hat, mich von meinem Zimmer, dem Haus, dem Garten zu verabschieden, und ich werde all das niemals wieder sehen, die Trauer darüber schnürt mir die Kehle zu, noch heute.
In einem riesigen Einfamilienhaus mit steif geschnittenen Rabatten davor nimmt mich kurze Zeit später eine resolute Frau in Empfang und zeigt mir die hallenähnlichen Räume, sie ist Jochens Frau, und ich habe sie noch nie zuvor gesehen, hinter ihr versteckt sich ihre Tochter, ein mageres, stummes Wesen mit großen, dunklen Augen. Nein, entgegen der Hoffnung meines Vaters können wir nicht miteinander spielen, wir sind beide gestörte Wesen, die das Spielen mit einem Gegenüber verlernt oder nie gelernt haben, deshalb sitzen wir kurze Zeit später schweigend in ihrem voll gestopften Kinderzimmer, umgeben von kreischend buntem Plastikschrott, und starren uns an. Viele Stunden später kommt Jochen nach Hause, der einzige Mensch in diesem Haus, den ich kenne, doch er begrüßt mich nur flüchtig, und während wir an einem monströsen Glastisch zusammen Abendbrot essen, weicht er meinem Blick aus, als habe er panische Angst, ich könne im nächsten Moment erzählen, dass er der Liebhaber meiner Mutter ist, doch das habe ich nicht vor, in meinem Bauch sitzt ein eisiger Klumpen, und ich bin unsichtbar, die Nacht verbringe ich schlaflos im Gästezimmer.
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