Wenige Wochen später steht der rote Porsche vor unserem Haus. Und wieder. Und wieder. Ich begreife bis heute nicht, warum mein Vater nichts davon mitbekommen hat, sicherlich haben die Nachbarn getuschelt, Porsche waren in unserer Gegend trotz allem etwas extrem Seltenes, die Leute mit solchen Autos wohnten woanders, bei uns fuhr man VW oder BMW, aber ich verstehe so vieles nicht, und ich kann meinen Vater heute nicht mehr fragen.
Manchmal machen meine Mutter, Steven und ich Ausflüge mit dem Porsche, wir fahren dann zum Baggersee in der Nähe und laufen dort ein bisschen herum. Einmal machen wir ein Picknick, als meine Mutter plötzlich anfängt, Steven mit Gummibärchen zu bewerfen, den kleinen roten, er macht sich einen Spaß daraus zu versuchen, sie mit dem Mund aufzufangen, und so sitzen sie nebeneinander auf der Wolldecke, völlig versunken in ihr Spiel. Ich stehe auf und will zum See herunter gehen, doch meine Mutter ruft mich zurück, versuch es doch auch mal, Schätzchen, fordert sie mich auf, ich stehe vor ihnen und greife schließlich nach der Tüte mit den Gummibärchen, mache mich innerlich ganz kalt und werfe, während meine Mutter lacht und Fotos von uns macht und Steven mich anspornt, lauthals. Dann treffe ich. Direkt in seinen weit aufgerissenen Mund.
Bald kommen immer öfter Pakete bei uns an, Pakete mit unzähligen Luftpost-Aufklebern und mir unverständlichen Aufschriften. Meine Mutter wartet mit dem Öffnen, bis ich nach Hause gekommen bin, dann fischt sie Süßigkeiten und kleine Geschenke für mich heraus und für sich Fotos von Stevens Haus in Amerika und Kassetten, unzählige schwarz glänzende, von ihm selbst besprochene Kassetten, die wir uns dann zusammen anhören, ich verstehe zwar viele Dinge nicht, die Steven darauf meiner Mutter erzählt, aber höre trotzdem weiter zu. Auf einer Kassette beschreibt er minutiös das Innere seines Hauses, die Details jedes Zimmers, in seinem Haus scheint es unzählige Räume zu geben, mehrere Schlaf- und Badezimmer, und von einigen kann man direkt auf einen See blicken, der an sein Grundstück grenzt. Es gibt sogar einen Kamin in seinem Haus, und er malt sich aus, wie es sein würde, dort mit meiner Mutter zu sitzen. Vor dem Kamin. Auf einem Bärenfell. Im Nachhinein ist es absurd, wie klischeereich das Ganze war, aber damals lausche ich gebannt, als höre ich eine von meinen Hörspielkassetten und müsse unbedingt erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Danach beschwört mich meine Mutter jedes Mal, nur ja nichts davon meinem Vater zu erzählen, aber das müsste sie inzwischen nicht mehr sagen, ich weiß intuitiv, dass er von diesen Kassetten besser nichts wissen sollte.
Bald kommt es auch zu Telefonaten, langen Gesprächen zu seltsamen Zeiten. Das mit der Zeitverschiebung verstehe ich damals noch nicht richtig, ich wundere mich nur, warum Steven immer so spät anruft, manchmal ist mein Vater währenddessen oben im Arbeitszimmer, und meine Mutter flüstert deshalb in den Hörer. Irgendwann werden die Anrufe häufiger, drängender, meine Mutter lächelt nun nicht mehr, wenn sie mit Steven spricht, sondern redet beschwörend auf ihn ein und schickt mich aus dem Zimmer, ich versuche, an der Tür zu lauschen, aber verstehe nicht genug, um mir einen Reim darauf machen zu können.
Eines Abends sitzt sie weinend im Wohnzimmer. Steven will mich heiraten, schluchzt sie, ich soll mit ihm in dem Haus am See wohnen, mit dem Kamin, und er will, dass du mitkommst, dort die Schule besuchst, aber das kann ich doch nicht tun, ich kann dich doch nicht einfach deinem Vater entreißen und nach Amerika mitschleppen, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich liebe ihn doch, aber er setzt mich so unter Druck, er will bald eine Antwort von mir, was soll ich denn um Gottes Willen nur machen. Ich starre meine Mutter an, in mir ist plötzlich ein riesiger Eisklumpen, der wächst und wächst, ich will nicht nach Amerika, aber ich will auch nicht, dass meine Mutter weint, trotz allem, an meinen Vater denke ich in diesem Moment nicht. Schließlich stottere ich, dann mach das doch, wenn du das willst. Nein, das kann ich nicht, erwidert meine Mutter, ihre Wimperntusche ist verlaufen und malt schwarze, schmierige Streifen in ihr sonst so gepflegtes Gesicht, ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn das schief geht, und ich habe dich mitgeschleppt. Da fange ich auch an zu heulen, und so sitzen wir beide dort auf dem Sofa und wissen nicht, was wir tun sollen.
Irgendwann kommen keine Anrufe mehr. Und keine Pakete. Doch manchmal finde ich meine Mutter im Wohnzimmer, wie sie die alten Kassetten hört und weint, in solchen Momenten fühle ich mich ganz schlecht und wünsche mich weit weg. Dorthin, wo es kein Amerika gibt. Und keine Entscheidungen, die anscheinend immer nur falsch sein können.
Nach dieser Episode wird es eine Zeitlang ruhiger um meine Mutter. Sie wirkt oft in sich gekehrt und abwesend, und sie fährt sich nur noch selten durch die Haare, ich versuche, sie aufzuheitern, doch es gelingt mir nicht oft, meistens sieht sie mich nur ernst und sehr nachdenklich an, und wenn ich sie dann frage, was sie gerade denkt, antwortet sie mir nicht. Ich spüre ihre Enttäuschung und Qual, aber ich weiß nicht, wie ich sie lindern soll. Und sprechen darf ich darüber natürlich mit niemandem.
Irgendwann wird sie krank, kann nichts mehr essen, sondern sitzt nur noch auf ihrem Platz in der Küche und drückt sich ihren Arm gegen den Bauch. Geht zum Arzt, zu noch einem Arzt, der ihr rosafarbene Tabletten verschreibt, doch es ändert sich nichts, die Schmerzen bleiben. Wenn ich mittags vor ihr sitze und esse, fühle ich mich ganz schlecht, weil ich etwas runter bekomme und sie nicht, das Ticken der Küchenuhr klingt überlaut in meinen Ohren, denn meine Mutter redet auch fast nicht mehr, nur das Nötigste, und das mit einer gepressten Stimme, selbst das Sprechen scheint ihr Schmerzen zu bereiten, deshalb sitzt sie nur noch regungslos auf ihrem Stuhl, mit dem Arm über ihrem Bauch, als sei er eine Art Gürtel, und betrachtet mich. Ich weiß nicht, was ihr dabei durch den Kopf geht, aber ich mag diese Blicke nicht, sie scheinen irgendetwas aus mir herauszulösen, und ich fühle mich seltsam leer, wenn ich die Küche verlasse und auf mein Zimmer gehe, dort ist es auch still, und selbst wenn ich spiele, tue ich dies schweigend, weil ich dann das Gefühl habe, gar nicht da zu sein, und wenn ich nicht da bin, hat meine Mutter vielleicht keine Bauchschmerzen mehr und kann nach Amerika gehen. Als ich damals den Kokon das erste Mal spürte, fühlte ich mich unsichtbar, jetzt versuche ich, unsichtbar zu werden. Und es gelingt mir, Stück für Stück ein bisschen mehr, bis ich irgendwann gar nichts mehr spüre. Ich teste das immer wieder, und irgendwann gelingt es mir, mich tief mit der Rasierklinge meines Vaters zu schneiden, ohne dass es weh tut. Doch es blutet sehr heftig, und weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun soll, rufe ich verwirrt nach meiner Mutter, als sie kommt, sieht sie erschrocken aus, greift dann beherzt zum Erste-Hilfe-Kasten und verbindet meinen Finger. Für den Moment scheint sie keine Schmerzen mehr zu haben, und das ist gut.
Aber ich werde keine Ritzerin auf Dauer, denn meine Mutter scheint meine Taktik zu durchschauen, und ihre Besorgnis nimmt wieder ab. Bis ich krank werde, immer wieder und immer wieder, trotz aller Anstrengung schaffe ich es nicht, mich tatsächlich in Luft aufzulösen, denn habe ich die eine Erkältung gerade hinter mir, erreicht mich die nächste schwere Bronchitis. Mein Glück ist, dass ich eine gute Schülerin bin und mir die vielen Fehlzeiten nichts ausmachen, sonst wäre ich wahrscheinlich woanders gelandet als da, wo ich heute bin.
Meine Mutter kocht literweise Tee, Hühnersuppe, liest mir Geschichten vor, sitzt mit mir stundenlang in Wartezimmern, an meinem Bett, tagelang, nächtelang. Ich sei kränklich, erzählt sie unseren Nachbarn, ich weiß nicht, was das Kind hat, aber der leiseste Windstoß scheint sie umzuhauen, von wem hat sie das bloß, oder ist das normal, ich mache mir solche Sorgen, ich weiß gar nicht, was ich noch machen soll, meine Mutter wird darüber noch dünner, und auf ihrer Stirn bilden sich tiefe Falten, die nicht mehr vergehen.
Читать дальше