Am nächsten Morgen sehe ich, wie Jochens Frau Annas Bett frisch bezieht, sie scheint in der Nacht ins Bett gemacht zu haben, mit acht Jahren. Ich verbringe noch zwei wortlose Tage in diesem Haus, jeden Abend ruft meine Mutter an, die gestresst klingt, aber trotzdem noch unbedingt kurz mit Jochen sprechen möchte, und ich reiche den Hörer weiter und gehe zurück in Annas Zimmer. Als mein Vater mich schließlich wieder abholt, lächelt sie zum ersten Mal, und ich lächele zurück, wir scheinen beide erst in diesem Moment zu begreifen, dass wir ein ähnliches Schicksal teilen.
Im Auto frage ich meinen Vater, ob wir noch einmal an unserem alten Haus vorbei fahren können, doch er will keinen Umweg machen. Er fährt den Weg, den ich bisher immer zur Schule gefahren wurde, das ist seltsam, weil ich dadurch irgendwie das Gefühl bekomme, aus der Zeit gefallen zu sein, es ist Wochenende, ich muss jetzt nicht zur Schule, aber ich fahre trotzdem dorthin, und als wir in die Straße einbiegen und ich das verhasste Gebäude sehe, bekomme ich heftige Bauchschmerzen. Als ich die neue Wohnung das erste Mal betrete, verstärkt sich die Irritation, denn natürlich stehen dort alle Möbel, hängen dort alle Bilder, die ich kenne, aber ich kann sie nicht mit den Räumen in Verbindung bringen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, es ist wie in einem Alptraum, ich bin zuhause und bin es doch nicht. Wo bin ich dann?
In der Tür meines neuen Zimmers steht meine Mutter und lächelt breit, sichtlich stolz, dass sie es geschafft hat, alles rechtzeitig einzurichten. Doch ich erkenne meine Sachen nicht mehr, sie sind mir fremd, sie existieren nun in einer fremden Ordnung, die ich nicht durchschaue, und so sitze ich wieder schweigend in einem Kinderzimmer, das nicht mein eigenes ist. Und fange an zu weinen.
Ich weiß bis heute nicht, warum meine Mutter all das getan hat. Warum sie oft so gedankenlos war mir gegenüber, warum sie von einem Mann zum anderen jagte, warum ihr das Leben mit uns nicht gereicht hat. Liebte sie meinen Vater doch nicht oder nicht genug, langweilte sie sich so sehr in ihrem Mutterdasein oder brauchte sie schlicht das ständige Begehrt-Werden als Lebenselixier? Ich habe sie das des Öfteren gefragt, aber sie hat mir nie eine Antwort gegeben. Vielleicht weiß sie auch selbst keine.
Auf jeden Fall explodiert die ganze Blase aus Versteckspiel und Geheimnissen ein paar Jahre später, irgendwann hält wohl keiner der beiden mehr die permanenten Lügen aus, Lügen dem anderen und vor allem sich selbst gegenüber, und meine Eltern trennen sich, als ich 13 bin, mein Vater bezieht ein kleines Apartment am anderen Ende der Stadt. Ich sehe ihn kaum noch, aber wir hatten schon vorher kaum Kontakt, deshalb trifft mich sein Auszug nicht besonders, er konnte mich sowieso nie schützen. Ich habe inzwischen erfahren, dass meine Angst vor der neuen Wohnung nicht unbegründet war, denn ich habe tatsächlich keinen Rückzugsort mehr, die verhasste Schule liegt direkt gegenüber, und jedes Mal, wenn ich aus meinem Fenster blicke, werde ich an ihre Existenz erinnert, außerdem liegt mein Zimmer zwischen dem Schlafzimmer meiner Mutter und dem Wohnzimmer, und ich bekomme jedes Wort mit, jede Berührung, zwischen ihr und dem anderen, oder meine Tür öffnet sich, und jemand kommt herein, besticht mich mit Spielzeug, streicht mir linkisch über den Kopf, will mit mir reden, ich verstumme dadurch immer mehr, bin nur eine Besucherin in meinem eigenen Zimmer. Und wenig später beginnen meine Zustände.
Der Teppich in meinem Zimmer ist hell, mit einigen dunklen Flecken durchsetzt, er ist aus Naturwolle und mein bester Freund, denn ich kenne ihn gut, ich kenne jede Faser seiner Schlaufen, jede Abweichung in der Struktur, ich kenne seinen Geruch, ein bisschen dumpf, fast muffig, ich kenne das Gefühl seiner Wolle auf meiner Haut, ich liege oft auf ihm und betrachte ihn, niemals zuvor (und niemals wieder) bin ich einem Ding so nahe gekommen wie ihm. Sobald ich aus der Schule komme und meine Aufgaben erledigt habe, lege ich mich auf den Boden, ich kann nicht mehr länger sitzen, ich bin müde, und der Bauch tut mir weh, doch ins Bett kann ich auch nicht gehen, denn dann würde meine Mutter mir die Hand auf die Stirn legen und den Arzt rufen, ich kann nur hier unten liegen, mit ein paar Büchern in Reichweite, falls jemand herein kommt, kann ich so tun, als lese ich, das sieht ja gemütlich aus, Schätzchen, soll ich dir vielleicht ein paar Kekse bringen und etwas zu trinken? Nein, Mama, lass nur, es ist alles in Ordnung, wenn ich etwas möchte, hole ich es mir schon, und so schließt sich die Tür wieder, und ich bin wieder allein mit den wolligen Schlaufen.
In der Schule schreibe ich weiterhin gute Noten, weiche weiterhin stoisch den höhnischen Rufen und zweifelnden Blicken meiner Mitschüler aus, nach außen hin ist keine Veränderung zu bemerken, das Funktionieren bin ich gewöhnt, doch alles andere ist mir inzwischen gleichgültig geworden, ich schaue mir meine Bücher nicht mehr an, spiele nicht mehr mit meinen Spielsachen, ich tue nur noch das, was von mir erwartet wird, zur Schule gehen, essen trinken schlafen, ansonsten starre ich auf meinen Teppich.
Irgendwann wird es noch schlimmer. Die Blicke meiner Mitschüler werden drängender, ihr Lästern unüberhörbar, irgendetwas stimmt doch nicht mit ihr, sie hat schon wieder eine Eins geschrieben, macht die eigentlich noch was anderes als Lernen, die ist doch nicht ganz normal, wisst ihr schon, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen hat, vielleicht ist sie darüber plemplem geworden, ich versuche, ungerührt an ihnen vorbei zu gehen, ihre viel sagenden Gesten zu übersehen, doch das Nagen in mir wird größer, lauter, bis ich mich völlig ausgehöhlt fühle. Ich schwänze die Schule, um ihnen zumindest einen Tag zu entgehen, doch zuhause ist meine Mutter und irgendein Mann, und ich habe keine Wahl, als unsichtbar zu werden, ein Staubkorn in den flauschigen Untiefen meines Teppichs, dort unten liege ich und schlage den Kopf gegen den Boden, immer härter, immer fester, ohne dass es jemand hört, die Wolle dämpft jedes Geräusch.
Meine Mutter hat sich in den letzten Jahren zunehmend angewöhnt, sich meine Krankheiten anzueignen, jedes Mal zusammen mit mir krank zu werden, vielleicht lenkte sie das von ihren eigenen Schmerzen das Leben betreffend ab. Wenn ich hustete, bekam sie fast eine Lungenentzündung, wenn ich Bauchschmerzen hatte, plagte sie ein Magengeschwür, wenn ich Kopfschmerzen hatte, drohte ihr eine Hirnhautentzündung, immer jammerte sie lauter, immer ging es ihr schlechter als mir, sie pflegte mich trotzdem, aber stets mit einer solchen Leidensmiene, dass ich am liebsten das Bett verlassen hätte, wenn es mir nicht gerade so mies gegangen wäre. Doch nun, als ich immer desinteressierter an allem werde, geradezu stumpf, bleibt sie seltsam unbeteiligt, passiv, aber vielleicht ist ihr Verhalten auch in dieser Hinsicht im Endeffekt nichts anderes als eine Spiegelung, vielleicht weiß sie insgeheim, dass Hühnersuppe oder Wadenwickel bei dieser Krankheit nicht helfen, und andere Möglichkeiten kennt sie nun einmal nicht.
Als ich schließlich gar nicht mehr weiter weiß, nehme ich mir eines Mittags ein langes Seil, lege es um meinen Hals und ziehe zu. Meine Mutter ist einkaufen, ich habe den Schlüssel von innen in die Wohnungstür gesteckt, um ungestört zu sein, zu bleiben, und ich spüre, wie sich der Druck um meinen Hals immer mehr verstärkt und ich gleichzeitig innerlich immer kälter werde. Ich sehe mein Zimmer, ich sehe meine Bücher, meine Stofftiere, meine Spielsachen, meine Schulbücher, meine Möbel, ich sehe das alles, und es bedeutet mir nichts, nichts davon gehört mir noch, ich bin nur noch ein glückliches, atemloses Schweben in luftleerer Stille. Dennoch gibt es irgendwann einen Widerstand in mir, irgendetwas lässt mich plötzlich nicht weiterziehen, sondern nachgeben, das Seil wieder lösen, ich verstehe es nicht, ich bereue mein Schwanken und fange an zu weinen, weil ich es vollenden will und nicht kann, was bin ich nur für eine elende Versagerin.
Читать дальше