Der nach drei Seiten offene Pub war bis auf wenige Plätze besetzt. Zehn Minuten zuvor war wieder ein Überlandbus angekommen, bereits der dritte für diesen Tag in Mataranka, einem der wenigen Zwischenstopps auf der langen Strecke zwischen Adelaide ganz im Süden des Kontinents und Darwin im hohen Norden und in entgegengesetzter Richtung. Hier hielt jeder Fernbus, der auf dieser Linie fuhr. Die zahlreichen Rucksackreisenden nutzten die willkommene Unterbrechung für einen Imbiss oder ein erfrischendes Bad im Thermalpool. Manche blieben für ein paar Tage hier und richteten sich auf dem Campingplatz häuslich ein, andere drängte es zur Weiterfahrt. Sie luden ihr Gepäck in den Bauch des Busses, der in spätestens einer Stunde zu seiner nächsten Etappe startete. Die frühen Abendstunden waren die Zeit des Tages, zu der sich an diesem Ort die meisten Menschen begegneten.
Hans, Jim und Bill saßen an einem der Tische vor ihren halbvollen Gläsern und beobachteten schon seit einer ganzen Weile dieses Schauspiel, das sich am Abendhimmel über ihren Köpfen abspielte.
„Das hört ja überhaupt nicht mehr auf.“ Richie kam staunend die wenigen Stufen zur Terrasse hinauf und steuerte den Tisch der Kameraden an.
Mit zunehmender Dämmerung hatte sich zu ihrem Erstaunen die Luft von Osten her gefüllt mit einer immer größer werdenden Wolke aus flatternden, schwarzen Bats, die alle in westliche Richtung über das Pub hinwegstrebten. Und dieses Gewirr nahm noch immer kein Ende. Hans hatte so etwas noch nie gesehen, obwohl er schon zweimal mit Richie in diesem riesigen Land unterwegs gewesen war.
„Das müssen zehntausende sein!“
Annette kam aufgeregt angelaufen.
„Seht doch mal! “ Auch sie war von diesem Spektakel überrascht worden. Unverzüglich wollte sie die Übrigen informieren.
Frank folgte ihr kurz darauf. Gelassen holte er sich eine Cola von der Bar und setzte sich an den Tisch. Er würde es später noch mal versuchen. Im Moment machte das Warten keinen Sinn. Die zwei Telefonzellen in der Nähe des Eingangs waren derart belagert von den zahlreichen Rucksacktouristen auf der Durchreise, dass er und Annette beschlossen hatten, ihre Anrufe so lange zu verschieben, bis der letzte Bus abgefahren war. Frank hatte bereits sein Handy an den Strom gehängt, um den Akku für die nächsten Tage aufzuladen, die sie sicher wieder mal irgendwo im Busch verbringen würden.
„Wo wollen diese riesigen Fledermäuse denn bloß alle hin?“ Fasziniert beobachtete Annette das grandiose Schauspiel über ihren Köpfen.
„Das, meine Liebe, sind Flying Foxes, Fliegende Hunde.“ Jim beantwortete ihre Frage gerne. „Tagsüber hängen sie in ihren Schlafbäumen. Nachts schwärmen sie aus und fallen in der Umgebung über die reifen Früchte her.“
Langsam lichtete sich diese aufgeregte Wolke. Schließlich kamen nur noch vereinzelte Nachzügler angeflattert, um sich ebenfalls in der Dunkelheit zu verlieren.
Richie schien nachzudenken. Fast automatisch schob er seine gestapelten Karten zu einem Fächer auseinander. Jim beobachtete ihn dabei. Viel hatten sie wirklich noch nicht erreicht.
„Hast du mit Jonathan gesprochen?“
„Ja, vorhin. Wir haben weiterhin seine volle Unterstützung. Wir sollen einfach dranbleiben. Er sagte, die Fernsehleute versuchen, ihn permanent unter Druck zu setzen, aber das beeindruckt ihn scheinbar wenig. Er hält uns den Rücken frei. Die beißen sich an Jonathan die Zähne aus, wie ich ihn kenne. Das gibt uns ein bisschen mehr Spielraum. Und den haben wir auch dringend nötig.“
Bill hatte sein Bier ausgetrunken und war wortlos aufgestanden. Jetzt kam er mit einem gefüllten Glas von der Bar zurück. Er stellte es vor seinem Platz ab, bevor er sich setzte.
„Vor dieser Sheila Young sollte er sich in Acht nehmen. Die kenne ich zur Genüge. Die kann ihm wirklich gefährlich werden.“
Hatte Jonathan diesen Namen bei ihrem Gespräch überhaupt erwähnt? Richie reagierte nicht weiter auf Bills Bemerkung. Frank jedoch wurde aufmerksam, als der Name fiel.
„Dass du an niemandem ein gutes Haar lässt, ist ja inzwischen bekannt. Aber was hast du gegen Sheila?“
Bill antwortete diesmal sehr bestimmt, denn er hatte sie kennengelernt, und deshalb wusste er, von wem er sprach.
„Diese Frau schreckt wirklich vor nichts zurück, mein Junge. Die geht über Leichen, wenn es nur ihrer eigenen Karriere dient.“
„Also Bill, jetzt übertreibst du wirklich.“ Frank hatte das Gefühl, dass sein Boss wieder mal zu stark polarisierte.
Bill musterte seinen Assistenten von der Seite her.
„Du bist ihr doch nicht etwa auf den Leim gegangen? Sie kommt nämlich auch aus Melbourne.“
„Wie kommst du darauf? Ich kenne sie kaum. Wir sind uns mal zufällig begegnet, und da hat sie auf mich einen eher netten Eindruck gemacht. “
„Da hast du wohl Glück gehabt.“ Für Bill war diese Sheila wirklich ein Fall für sich. Die hatte schon mehr als einen auf dem Gewissen. Deshalb wollte er sich auch nicht so schnell wieder beruhigen. Man würde ihm später also auch keinen Vorwurf machen können, wenn er Recht behalten sollte.
Richie hatte die Unterhaltung zwischen den beiden Kameraleuten nur am Rande mitbekommen. Seine Gedanken kreisten immer wieder um dieselbe Sache. Inzwischen hatte er zwei Karten aufgeschlagen und sinnierte leise vor sich hin.
„Wir können sowieso nur unseren Vermutungen nachgehen. Wir verlassen morgen das Gebiet, von dem wir sicher annehmen konnten, dass es tatsächlich alte Spuren von Kramer gibt. Und wir haben darüber hinaus nur wenig erfahren, das uns weiterhilft. Nun sind wir noch mehr als bisher auf unsere Intuition angewiesen.“ Richie faltete die Karten zusammen. Dabei wirkte er irgendwie deprimiert. Als er dann noch etwas hinzufügte, wurde seine Stimme wieder entschlossener. „Aber ich bin mir trotzdem ganz sicher, wir werden etwas finden.“
„Fragt sich nur, wo und wann, Richie?“ Annette stellte ihr Glas ab.
„Sei einfach still! Er versteht mehr als jeder andere von uns von der Materie.“ Hans reagierte säuerlich auf ihre Bemerkung.
„Ja, so viel, dass er schon Halluzinationen hat.“ Bill hatte sein nächstes Bier fast leergetrunken.
„Das ist überhaupt noch nicht bewiesen.“ Hans reichte es für heute. Diese ständigen Pöbeleien nervten ihn zunehmend. „Dass du deinen Job beherrschst, kannst du auch noch zeigen, wenn du das meinst. Vorausgesetzt, du bist dann noch fähig, scharf zu sehen und findest den richtigen Bedienknopf an deiner Kamera.“ Hans fühlte, wie eine Wut in ihm hochstieg, die er nicht länger unterdrücken wollte. Sie kam einem Gefühl der Ohnmacht gleich. Schließlich waren sie alle für denselben Auftraggeber unterwegs, um diese schwierige Aufgabe, das Rätsel um seinen Vorfahren, zu lösen. So, wie die Dinge sich momentan entwickelten und aus dem Ruder zu laufen drohten, hatte Jonathan sich offensichtlich in einem entscheidenden Punkt geirrt, als er dieses Such-Team zusammenstellte: In der Auswahl des Kameramanns!
Bill schnaufte wütend über diese Zurechtweisung, sagte jedoch nichts. Stattdessen trank er sein Glas leer und stand auf, um sich ein frisches Bier zu holen.
Lachend kamen Paddy und Dianne leichtfüßig die drei Stufen herauf. Annette musterte die beiden Gestalten von oben bis unten. Sie sahen ziemlich derangiert aus.
„Wo habt ihr beide euch denn herumgetrieben?“
Der Aborigine legte lächelnd seine Jacke auf die Lehne eines freien Stuhls.
„Entschuldigt Kollegen, wir hatten noch eine private Wette einzulösen. Hat ein wenig länger gedauert als geplant.“
„Das ist nicht zu übersehen. Worum ging es denn diesmal?“ Jim grinste ihn breit an.
Die beiden sahen einander an und begannen zu lachen.
„Du wirst es nicht glauben, aber das ist uns im Eifer des Gefechts völlig entfallen!“
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