Joe ruft: „Sofort aufhören. Polizei.“
„Des kaun jeda sogn“, gibt einer zurück.
Joe holt den Dienstausweis aus seiner Geldbörse.
Er geht zur Gruppe hinüber und präsentiert mit vorgestreckter Hand den Ausweis.
„Da schaut’s und gebt’s a Ruh jetzt.“
Es wird sofort still. Die Gruppe drängt zum Ausgang. Den, der am Boden gelegen ist und ein wenig blutet, stützen sie dabei.
„So.“ Joe setzt sich sichtlich zufrieden hin.
„Du bist mein Held“, sagt Marlies mit spöttischem Unterton.
„Was hast du? Du warst im Auto schon so komisch.“
„Wieso? Nur weil ich einmal nichts rede? Du hast ja auch vor dich hin geschwiegen.“
„Ich hab nachgedacht.“
„Ich auch.“
„Worüber?“
„Über dasselbe wie du, nehme ich mal an.“
„Marlies. Du hast mir sehr geholfen, aber jetzt sollte Schluss sein. Haben wir ja schon im Auto geklärt, oder?“
„Ja, haben wir. Aber du vergisst, dass es diesen Fall ohne mich gar nicht gäbe.“
„Und das heißt?“
„Dass du auch ein wenig dankbar sein könntest. Und“, sie lächelt Joe an, „und ich mehr als einen Wunsch frei haben sollte.“
„Marlies, bitte versteh das. Ich kann dich bei den Ermittlungen nicht brauchen. Du bist keine Polizistin.“
„Aber gerade deshalb kann ich Dinge herausfinden, die du nie erfahren würdest. Besonders bei den Frauen.“
Joe schüttelt den Kopf und schaut in die noch halbvolle Kaffeetasse. „Ich mag nicht mehr. Fahren wir.“
Beim Knoten St. Michael biegt Joe auf die S6 Richtung Leoben ab.
„Du bist falsch, Joe.“
„Kleine Überraschung. Wir fahren noch bei Herrn Hankler in Leoben vorbei. Ich habe ihn angerufen und mich angekündigt. Er hat sich sehr überrascht gegeben. Ich habe aber herausgehört, dass ihn Bram schon informiert hat.“
„Super. Darf ich beim Verhör dabei sein?“
„Sicher nicht.“
„Du glaubst doch nicht, dass ich im Auto warte.“
„Okay. Aber du hältst dich bitte komplett raus.“
„Kurt Hankler GmbH – Hotelsoftware“ steht auf der unteren, „Familie Hankler“ auf der Glocke darüber. Das graugrüne Haus hat zwei Stockwerke und ist gute zehn Meter breit. Damit gehört es zu den größeren, die an dem kleinen Park mit verkehrsberuhigten Gassen rundum stehen.
Bevor Joe noch läuten kann, hören sie den Türsummer. „Bitte im Erdgeschoß gleich links“, tönt es aus der Gegensprechanlage. Sie betreten einen Empfangsraum, in dem eine Gruppe schwarzer Lederfauteuils Noblesse vermitteln soll. Die beiden Yucca-Palmen links und rechts der Sitzgruppe sehen aber so kümmerlich aus, dass Marlies sofort zur Gießkanne greifen will. Sie wirft einen Blick durch die rechte offene Tür, die in ein schmuckloses Büro mit drei Schreibtischen führt. Auf den Tischen stehen jede Menge Bildschirme, jeweils zwei eng aneinandergerückt. Marlies hat noch nie gesehen, dass ein Mensch zwei Bildschirme zur gleichen Zeit brauchen kann. Obwohl der Raum verwaist ist, es ist ja auch Samstag, dringt ein muffiger Geruch von Schweiß aus dem Zimmer.
„Links bitte“, ruft Kurt aus dem linken Zimmer, dessen Tür angelehnt ist. In diesem Raum dominiert ein riesiger Schreibtisch, der mit schwarzem Leder überzogen ist. Kurt hat sich von seinem ebenfalls schwarzen Chefsessel erhoben und reicht Joe mit einer kleinen Verbeugung die Hand. Wie unterwürfig, denkt Marlies. Sie spürt ihr Herz klopfen. Kein Wunder. Kurt könnte der Mörder von Anke sein. Was heißt könnte, er ist es ziemlich sicher.
Marlies sieht den Nebel vor sich. Kurt zweigt in das Gelände ab, Anke angsterfüllt direkt hinter ihm. Kurz vor dem Felsabbruch hat er sie dann alleine gelassen. Vielleicht hat er ihr sogar noch gesagt, sie solle das steile Stück leicht linkshaltend hinuntergehen. Joe muss unbedingt fragen, ob Kurt Schitouren geht.
„Sind Sie beide von der Kriminalpolizei?“
„Nein, das bin nur ich. Ich wollte meine Frau nicht im Auto warten lassen.“
„Ach so. Naja, sie könnte ja auch im Vorraum warten. Mir ist es nicht so recht, wenn Ihre Frau dabei ist.“
„Und warum nicht?“, fragt Marlies. Sie sieht Kurt mit einem trotzigen Blick an.
Für einige Sekunden hält Kurt den Augen von Marlies stand, dann schaut er wieder zu Joe.
„Geht klar“, sagt Joe zu Kurt und nickt.
„Marlies, kannst du bitte draußen warten. Ich muss den Wunsch von Herrn Hankler selbstverständlich respektieren.“
Marlies schnaubt durch die Nase. Sie steht auf und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Scheiße, denkt sie. Jetzt, wo’s wirklich spannend wird, darf ich nicht dabei sein. Sie geht im Vorraum auf und ab. Auf diesen angeberischen, schwarzen Sitzmöbeln mag sie nicht Platz nehmen. Sie bemerkt die beiden anderen Türen. Die eine ist das WC. Das sieht man schon an der Frei-Anzeige unterhalb der Klinke. Die andere aber ist etwas breiter und aus Metall. Marlies öffnet sie vorsichtig. Direkt vor ihr steht ein schwarzer Audi Q5. Marlies mag schwarze Autos nicht. Sie ist überzeugt, dass diese eine Macho-Farbe ist. Und schwarze SUVs sind sowieso das Letzte. Das passt zu Kurt, denkt Marlies. Die im Dunkel sieht man nicht, fällt ihr ein. Gleich neben dem Q5 steht ein normaler Wagen. Auch ein Audi. Der gleiche Typ, den Joe fährt. Ein A4 Kombi. Vermutlich das Auto von Kurts Frau. Lustig, dass der weiß ist, denkt Marlies. Schwarz und weiß. Gegensätzlicher geht es nicht mehr. Sie geht in die Garage hinein. Das Licht schaltet sich automatisch ein. Links hängen drei Mountainbikes an Haken. Daneben sind sechs Paar Schi wie in einem Schistall aufgestellt. Marlies geht näher heran. Zwei Paare davon sind Tourenschi. Die könnten aber auch vom Sohn sein oder von Kurt und seinem Sohn. Ach ja, Joe soll den Kurt fragen, ob er Schitouren geht. Sie tippt eine Nachricht für Joe ein. Hoffentlich schaut er drauf, während des Verhörs. Auf der rechten Seite hängt viel Werkzeug und die kleine Werkbank darunter ist mit Schraubenziehern, Zangen unterschiedlichster Art und Schraubenschlüsseln übersät. Joe räumt immer auf, denkt Marlies. Jedes Werkzeug hat seinen festen Platz bei ihm.
Sie geht um den Q5 herum. Im Laderaum dürfte noch Gepäck liegen. Marlies kann es nur erahnen, da es ganz nach vorne geschoben ist. Sie beugt sich ganz nahe zur Heckscheibe und identifiziert eine graue Sporttasche mit rosafarbenen Applikationen und einen mittelgroßen blauen Koffer. Marlies ist überrascht, als sie die Heckklappe zu öffnen versucht und diese wie von Zauberhand in eine waagrechte Position fährt.
„Das ist eindeutig kein Männergepäck“, flüstert sie. Sie zieht die Tasche näher heran und findet neben der hineingestopften Sportbekleidung für Frauen eine Damenhandtasche. Kurt hat also gelogen. Er hat das Gepäck von Anke mitgenommen. Das ist der entscheidende Beweis, denkt sie. Und ich habe ihn entdeckt.
Die schwarze Handtasche mit goldenen Schnallen und zwei ebenfalls goldenen Zippverschlüssen an der Oberseite besteht offensichtlich aus zwei gleich großen Fächern. Ihre Hände zittern, als sie einen Zippverschluss öffnet. In diesem Fach ist nur der übliche Krimskrams wie Lippenstift, Eyeliner, Lesebrille, Sonnenbrille, Tictac und vieles mehr zu finden. Aus dem zweiten Fach kramt sie ein in Hellblau gehaltenes Seidentuch und eine überwiegend weiße Tablettenschachtel hervor. „Valproat Retardtabletten, fünfhundert Milligramm“, liest sie halblaut. Sie macht ein Foto von der Tablettenschachtel und sendet es Joe. Dazu tippt sie eine Nachricht: „Tasche und Koffer von Anke in Kurts Auto gefunden. Kannst ihn gleich verhaften.“
Marlies hört plötzlich Schritte näherkommen und kann gerade noch die Heckklappe wieder schließen, bevor sich die Tür an der linken Seite öffnet.
„Was machen Sie da?“ Eine eher kleine und mollige Frau steht in der Tür. Sie trägt einen grünen Jogginganzug. Das halblange schwarze Haar wirkt ungepflegt.
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